Der Frust sitzt tief bei Marc Nagel. Der Hausarzt aus Hohenfels und viele seiner Kolleginnen und Kollegen haben vor einigen Wochen eine böse Überraschung erlebt: Zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren greift wieder die Budgetierung für hausärztliche Leistungen. Die Ärzte sind also nicht für alle Leistungen, die sie erbracht haben, voll bezahlt worden, weil die dafür vorhandenen Mittel ausgeschöpft waren. Denn weil in ganz Baden-Württemberg mehr Arztleistungen abgerechnet wurden, sind die von den Krankenkassen im Vorfeld als Budget bereitgestellten Mittel erschöpft und die Ärzte bekommen nicht für all ihre Leistungen auch die volle Erstattung.
Für viele Praxen bedeutet das mitunter einen hohen finanziellen Verlust. Deshalb wandte sich Nagel nun mit einem offenen Brief an die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) und die Politik, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was die Verluste konkret bedeuten.
Leistungen im fünfstelligen Bereich wurden nicht bezahlt
Allein im vierten Quartal 2023 habe das Gesundheitszentrum Egelsee in Hohenfels, das Nagel gemeinsam mit seiner Kollegin Iris Gatternig betreibt, Leistungen in Höhe von rund 30.000 Euro nicht vergütet bekommen. „Das entspricht rund 400 Patienten, die wir gratis behandelt haben“, so Nagel. Zwar arbeite die Bundesregierung derzeit am Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz, das die Budgetierung zumindest in Teilen beenden soll. Dieses werde jedoch voraussichtlich erst im dritten Quartal 2025 greifen. Bis dahin könnte die Praxis nicht vergütete Leistungen in Höhe von rund 200.000 Euro anhäufen, rechnet Nagel vor.
Erst im vergangenen Jahr habe er mit seiner Kollegin die neue Praxis mit einer Fläche von 660 Quadratmetern eröffnet. Eigentlich war das Ziel, in Zukunft noch mehr Patienten betreuen zu können, denn Nagel befürchtet, dass im Raum Stockach in absehbarer Zeit noch einige Praxen schließen werden. „Wir waren natürlich davon ausgegangen, dass wir für die Mehrleistung, die wir durch die Aufnahme zusätzlicher Patienten erbringen werden, auch entsprechend mehr verdienen können“, so Nagel. Doch dem sei nun nicht so.
Ärzte haben Konsequenzen gezogen
Dabei gehe es ihm nicht darum, sich zu bereichern, macht Nagel deutlich. „Ich bin der Alleinverdiener in unserer Familie und werde bis zum dritten Quartal 2025 als einer von zwei Gesellschaftern 100.000 Euro nicht verdient haben, für die ich 50 bis 60 Stunden pro Woche gearbeitet habe. Die Praxis hat jährliche Personalkosten von 200.000 Euro, dazu kommen Abschreibungen, Mietzahlungen, Kredittilgungen, Versorgungswerkabgaben, Krankenversicherung und diverse andere Kleinigkeiten.
Ich bin kein Millionär, ich trage die Verantwortung für sieben Angestellte, vier Kinder und eine Ehefrau“, so Nagel. Die Investition in das neue Praxisgebäude habe sich auf über 2 Millionen Euro belaufen.
Für das Gesundheitszentrum Egelsee hat die aktuelle Lage jetzt drastische Konsequenzen. „Wir haben die Entscheidung getroffen, dass wir unsere Versorgung künftig dem uns zur Verfügung gestellten Regelleistungsvolumen anpassen werden. Unsere Sprechzeiten haben wir verkürzt, die Aufnahme von Neupatienten gestrichen“, macht Nagel deutlich.
Praxis war aus Protest zeitweise geschlossen
Bereits vor Kurzem war die Praxis aus Protest an vier Tagen geschlossen. Auf dem Anrufbeantworter und mit einem Aushang an der Tür verwiesen Nagel und sein Team auf die Kassenärztliche Vereinigung. Dort kam diese Aktion allerdings nicht gut an. Als Antwort kam eine Rüge an Marc Nagel und Iris Gatternig, mit einem Verweis auf die Verpflichtung, ihrem vollen Versorgungsauftrag nachzukommen. Das sorgt für Frust bei den beiden Ärzten. Sie fühlen sich von der KVBW allein gelassen, wie aus ihrem offenen Brief hervorgeht.
KVBW verweist auf die Politik
Auf Nachfrage des SÜDKURIER erklärt Kai Sonntag, Pressesprecher der KVBW, man würde alles unternehmen, um seine Mitglieder zu unterstützen. „Da es sich aber um eine gesetzliche Vorgabe handelt, können wir das nicht ändern. Daher haben wir schon seit dem vergangenen Jahr Protestmaßnahmen unterstützt, haben in diesem Jahr eigene Protestmaßnahmen initiiert, sind auf allen Ebenen unterwegs, um auf das Problem aufmerksam zu machen. Durchaus erfolgreich. Denn eine Form der Entbudgetierung ist im Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz enthalten. Aber bisher ist das Gesetz noch nicht beschlossen und daher auch noch nicht in Kraft.“
Doch wie schätzt der Verband den Schaden ein, der den Ärzten insgesamt entsteht, bis das Gesetz zur Entbudgetierung kommt? Immerhin wird es voraussichtlich noch rund ein Jahr dauern, bis das Gesetz kommt. „Das ist viel zu spät“, schreibt Kai Sonntag. Die Praxen seien zwar unterschiedlich von den finanziellen Ausfällen betroffen, „unabhängig davon ist der Schaden immens. Es ist ja auch nicht zu verstehen, geschweige denn zu akzeptieren, dass wir einerseits dringend nach Hausarztterminen suchen und einen hohen Aufwand betreiben, dass die Hausärzte mehr Patienten versorgen, dann aber nicht alle Behandlungen bezahlen“, erklärt Sonntag.
Auf die Frage, ob es eine Perspektive für eine schnelle Verbesserung der Situation gibt, verweist Sonntag auf die Politik: „Das hängt davon ab, was der Gesetzgeber letztendlich beschießt“, schreibt er. Bis dahin bleibt für viele Ärzte die Unsicherheit, ob sie für ihre Leistungen im jeweils vorangegangenen Quartal voll vergütet werden oder nicht.