Irgendwann verschluckt sie dich, die legendäre Kurve von Dingelsdorf. Mit viel Glück spuckt sie dich an ihrem Ende ohne Kratzer und Beulen wieder aus. Wehe dem, der hier die Konzentration verliert.

Scherben auf der Straße und Farbspuren an Randstein und Hausmauern zeugen von abgebrochenen Spiegeln und zerkratztem Lack. Die Kurve von Dingelsdorf kennt keine Gnade. Wer sie unterschätzt, kann sich einen Termin beim Lackierer besorgen.

Die Thingoltstraße in Dingelsdorf. Eine echte Perle unter den idyllischen Dorfstraßen unserer Region

Sie entspringt der Oberdorfer Kronbohlstraße und wird irgendwann zur Wallhauser Straße. Sie ist nur kurz, die altehrwürdige Thingoltstraße. Ein paar hundert Meter. Und doch hat sie es zu einer Berühmtheit gebracht, die weit über die Grenzen Dingelsdorfs hinausgeht.

Täglich fahren auf ihr hunderte Menschen morgens auf dem Weg zur Arbeit und abends wieder nach Hause. An einem Punkt sind sie dann mittendrin in der berühmt-berüchtigten Kurve. Von Oberdorf kommend kündigt sie sich kurz nach dem Dorfplatz an – ein Spiegel weist darauf hin, dass gleich etwas Ungewöhnliches kommt.

Hier, wo die Brotgasse geradeaus führt, macht die Thingoltstraße eine 90-Grad-Krümmung nach links. Wer hier fährt, der hofft darauf, keinen Gegenverkehr zu haben. Sie ersten Sekunden kommen einem Blindflug gleich. Spiegel hin, Spiegel her. Einsicht bietet die Kurve nicht. Fans der Formel Eins fühlen sich unweigerlich an den Stadtkurs von Monte Carlo erinnert. Wer sich hier verschaltet, wird schnell abgehängt. Oder steht mit qualmendem Motor am Straßenrand.

An den Ecken der Gebäude finden sich Kratzspuren in allen Farbvariationen

Rechts ein Bauernhaus von 1690, links eine ebenfalls ältere Doppelhaushälfte. Im Bauernhaus sind die Kegels beheimatet, in der Doppelhaushälfte auf der anderen Straßenseite wohnt seit 1951 die 91-Jährige Witwe Marga Sieger.

Marga Sieger
Marga Sieger | Bild: Oliver Hanser

Eiserne Zäune und selbst errichtete Poller aus Beton und Stein schützen die Domizile vor unliebsamen Begegnungen mit Bussen, Motorrädern oder Autos.

Bild 2: 90 Grad, abgebrochene Außenspiegel und festklemmende Stadtbusse: Wieso diese enge Kurve in Dingelsdorf so berüchtigt ist
Bild: Oliver Hanser

"Vor rund einem halben Jahr gab es die bisher letzten größeren Kratzer", sagt Andrea Kegel. Vor vier Jahren gab es zuletzt eine größere Karambolage mit erheblichem Schaden an Haus und Auto.

Wenn der Rote Arnold sich durch die Kurve quält

An diesem Nachmittag zeigt sich die Kurve von ihrer spektakulärsten Seite. Der Rote Arnold, der Konstanzer Stadtbus mit Nummer 13/4, kommt aus Wallhausen. Fahrgäste wollen pünktlich ans Ziel, eine Verspätung wird nur zähneknirschend hingenommen. Wenn überhaupt.

Vom Dorfplatz fährt ein kleines rotes Auto nichts ahnend in die Kurve hinein – und sieht sich plötzlich dem riesigen Bus gegenüber.

Bild 3: 90 Grad, abgebrochene Außenspiegel und festklemmende Stadtbusse: Wieso diese enge Kurve in Dingelsdorf so berüchtigt ist
Bild: Oliver Hanser

Schnurrstracks den Rückwärtsgang einlegen und husch, husch mit Schulterblick zurück Richtung Dorfplatz.

Kurve Dingelsdorf1 Video: Schuler, Andreas

Der Doppelbus mit der Zieharmonikaverbindung nimmt die gesamte Straßenbreite in Anspruch, um überhaupt unbeschadet die Kurve zu kriegen. Die vordere Hälfte türmt sich wie ein Monster vor dem entgegen kommenden Verkehr auf, um nur Sekunden Bruchteile später die 90-Grad-Hürde zu meistern.

Bild 4: 90 Grad, abgebrochene Außenspiegel und festklemmende Stadtbusse: Wieso diese enge Kurve in Dingelsdorf so berüchtigt ist
Bild: Oliver Hanser

"So geht das alle Viertelstunde", sagt Rita Kegel, die seit ihrer Kindheit in dem Bauernhaus wohnt. Ihr Urgroßvater hatte das Haus 1835 erworben, seither ist es Wohnsitz der Familie. Zuvor war es ein Gasthaus des Klosters Reichenau.

Wenn Rita Kegel mit ihrem Mann Fritz am Esstisch in der guten Stube sitzt, blickt sie den Busfahrern in die Augen

Kurve Dingelsdorf2 Video: Schuler, Andreas

Die eifrigen Damen und Herren hinter den großen Lenkrädern kommen dem Haus gefährlich nahe, abends und nachts zucken die Streiflichter ihrer großen Scheinwerfer durchs Wohnzimmer – begleitet vom tiefen Rauschen der Motoren.

„Des höret mer nach all dene Johr ni meh. Aber a weng nervig isches scho no.“
Fritz Kegel

In den 70er Jahren gab es eine Bürger-Bewegung, die eine Umgehungsstraße wollte. Es standen drei Varianten zur Auswahl, zwei am Waldrand und eine in Seenähe – getan hat sich nichts. Die Kommunalpolitik entschied sich dagegen.

Seither nahm die Verkehrsbelastung Jahr für Jahr zu. Die Menschen besitzen immer mehr Autos, auch kurze Strecken werden mit dem PKW getätigt.

"Früher sind d'Leut öfter mit em Rad gefahre", sagt Fritz Kegel. "Heut goht's nur no mit em Auto."

Bis in die 70er Jahre hatte die gute, alte Thingoltstraße noch eine zweite Kurve desselben Kalibers

An der Ecke Zur Schiffslände stand damals noch eine alte Schmiede. Bevor die abgerissen wurde und somit der neuen Straßenführung Platz machte, nahm die Thingolt eine ähnliche Krümmung wie rund 50 Meter zuvor beim alten Bauernhaus – und fertig war die perfekte Schikane.

Die verbliebene Kurve wird so lange für Aufsehen sorgen, wie die Häuser dort stehen. Eine Umgehungsstraße ist schon längst kein Thema mehr.