Eigentlich ist die medizinische Notfallversorgung in Deutschland ganz einfach. „Wenn ich mich erkältet habe, gehe ich zum Hausarzt, wenn ich mir das Bein gebrochen habe, ins Krankenhaus“, erklärt Christoph Venedey, Notfalldienstbeauftragter für Konstanz, Radolfzell, Allensbach, Reichenau und die Höri.
Und wenn der eigene Hausarzt an den Wochenenden und Feiertagen frei hat, gibt es einen niedergelassenen Kollegen, der in einer Notfallpraxis Bereitschaftsdienst hat. So einfach ist die Theorie. Eigentlich.
Im Alltagsgeschäft jedoch „wird die Notfallpraxis mit banalen Fällen überlaufen“, meint Ewald Weisschedel. 70 bis 80 Patienten seien es pro Diensttag. „Viele kommen und sagen: Mir tut seit drei Tagen der Fuß weh, aber jetzt habe ich gerade Zeit. Bitte behandeln Sie mich doch. Das ist wirklich mühselig, weil der Bereitschaftsdienst für echte Notfälle eingerichtet wurde.“
Weisschedel weiß, wovon er spricht. Der pensionierte Konstanzer Allgemeinmediziner hat die Notfallpraxis im Klinikum vor 20 Jahren mitgegründet. Bis 1999 hatte an den Wochenenden und Feiertagen neben der Notaufnahme des Krankenhauses einer der ortsansässigen Hausärzte in seiner eigenen Praxis Bereitschaft. Bis die Konstanzer Mediziner um Weisschedel als dritte baden-württembergische Stadt nach Freiburg und Stuttgart eine Zentrale im Klinikum ins Leben riefen. Im vergangenen Jahr ist diese aus dem alten Gebäude in die neuen Räumlichkeiten der zentralen Notaufnahme umgezogen.
„Jetzt arbeiten die Hausärzte in der Notfallpraxis und die zentrale Notaufnahme des Klinikums noch enger zusammen. Es ist, als hätten wir eine eigene Praxis im Krankenhaus“, schwärmt Weisschedel von einer „Win-win-win-Situation. Die Patienten wissen nun sofort, wo sie im Notfall hinmüssen; die Ärzte haben eine bessere Infrastruktur mit Labor und Röntgen; und das Krankenhaus hat nichts mehr mit banalen Erkrankungen zu tun.“
So könnte es sein, wenn sich denn alle dieser Trennung bewusst wären oder sie nicht wissentlich ignorierten. „Wir haben im Schnitt 60 Patienten pro Wochentag“, sagt Ivo Quack, der Leiter der Notaufnahme im Klinikum. „Bei der aktuellen Hitzewelle waren es zwischen 80 und 90 am Tag, darunter auch einige lebensbedrohliche Fälle.“
Aber eben bei Weitem nicht nur. Quack hat eine deutliche Häufung wahrgenommen. „Viele Leute kommen einfach, wenn sie Zeit haben, meist am späten Nachmittag“, sagt er. Diese Konzentration auf wenige Stunden „bringt uns an die Grenzen. So wird man der Massen nicht mehr Herr.“
Ein Grund für die Häufung von vermeintlichen Notfällen ist für Ewald Weisschedel die Tatsache, dass „viele gar keinen Hausarzt mehr haben. Besonders ist das bei Studenten, die nicht von hier kommen, oder bei Migranten der Fall, die so etwas wie einen Hausarzt gar nicht kennen. Die gehen dann wegen einer Erkältung ins Krankenhaus – während der Woche in die zentrale Notaufnahme und an den Wochenenden zu uns.“
„Viele Menschen, die keinen Hausarzt haben, gehen wegen einer Erkältung ins Krankenhaus.“Ewald Weisschedel
Eine Ursache für die starke Beanspruchung ist für Ivo Quack auch, dass im digitalen Zeitalter alles rund um die Uhr verfügbar ist. „Gerade bei der jüngeren Generation gibt es eine Tendenz: Sie holen eine erste Meinung bei Google, die zweite aber nicht bei Yahoo, sondern bei uns“, sagt der Leiter der Notaufnahme.
Wenn dann alles doch nicht so schlimm ist wie befürchtet, muss sein Team zusehen, dass die Patienten ohne Hausarzt an einen niedergelassenen Kollegen weitergeleitet werden, was nicht ganz einfach sei.
Aus diesem Grund soll die Notfallversorgung auch in Konstanz neu strukturiert werden, um die Ressourcen besser zu bündeln, wie Christoph Venedey erklärt. „Nächstes Jahr sollen die Nummern 112 für die Notfallversorgung und 116117 für den Hausarzt-Notdienst zusammengelegt werden“, sagt er. Alle Anrufer landen dann in einer sogenannten integrierten Notfallleitstelle.
„Dort wo heute noch eine Trennung herrscht, gibt es dann nur noch einen Tresen, an dem eine ausgebildete Fachkraft entscheidet, ob der Patient ambulant von einem niedergelassenen Arzt behandelt wird oder stationär von einem aus der Klinik. Das sorgt für Entlastung, weil die Patienten gleich auf der richtigen Versorgungsebene landen“, sagt Venedey. Im Idealfall sei dieses integrierte Notfallzentrum sieben Tage die Woche rund um die Uhr geöffnet.
Dabei könne auch gleich über die Dringlichkeit der Fälle entschieden werden, wie Ewald Weisschedel betont. „Manchmal kommt einer, der nur den bekannten Männerschnupfen hat und gefühlt fast daran stirbt, der andere dagegen sitzt mit einem Herzinfarkt im Wartezimmer und glaubt, dass es nicht so schlimm ist“, sagt er und fügt hinzu: „Natürlich müssen wir alle Patienten behandeln, der eine muss aber vorgezogen werden.“
Im Klinikum wird über einen Sicherheitsdienst nachgedacht
Es wollen jedoch nicht alle akzeptieren, dass es trotz ständiger Verfügbarkeit auch in einer Notaufnahme einmal länger dauern kann. „Die Hemmungen sinken, ausfällig zu werden. Auch Alkohol und Drogen sind ein Problem“, sagt Leiter Ivo Quack. Es gäbe Überlegungen, ob nicht nach der Kernzeit eine Security für Ordnung sorgen solle.
Die Konstanzer Notaufnahme ist ein Erfolgsmodell. Allerdings eines, für das es in den vergangenen Jahren immer schwieriger geworden ist.