Heute hat es nicht geklappt. Das übliche Abendessen hat Notfallsanitäter Thomas Dreier ausfallen lassen, er hatte noch etwas zu erledigen, die Zeit vor Dienstbeginn um 19 Uhr hat nicht gereicht.
„Ich habe mir das eigentlich angewöhnt, das kann sonst ziemlich übel enden.“ Gemeint ist ein knurrender Magen, weil Dreier und sein Kollege, Rettungssanitäter Tobias Stoiber, von Einsatz zu Einsatz gerufen werden. Weil vor Mitternacht keine Zeit für Hunger bleibt.
„Wichtige Sache: Müsliriegel im Spind“, sagt Stoiber. Beide sind erfahren, arbeiten seit etlichen Jahren für die Malteser in Konstanz, häufig bilden sie gemeinsam ein Team.
Es ist jetzt kurz vor 22 Uhr am Samstagabend. Hinter den beiden und mir, der ich sie heute durch die Nacht begleite, liegen stressige Stunden.
„Stressig?“, fragt Thomas Dreier, „nein, eigentlich nicht, bei einer Reanimation weiß jeder, was zu tun ist, zumal wir es häufig üben.“ Gegen 19.30 Uhr – kurz nach Beginn der Nachtschicht, die bis Sonntag um 7 Uhr dauern wird – werden die beiden in die Radolfzeller Straße gerufen.
Erster Einsatz: Es geht um Leben oder Tod
„Es geht gleich richtig los, es gab einen Autounfall mit einer bewusstlosen Person“, ruft Tobias Stoiber noch nach hinten in RTW 12/83. „Und denk dran“, ergänzt er noch. Wir haben uns davor schnell aufs Du geeinigt. Dort sitze ich also und bin froh, mich daran zu erinnern, was Stoiber mit „daran denken“ meint: Anschnallen und Festhalten, sonst läge ich jetzt quer im Rettungswagen.
Blaulicht, Martinshorn, es muss schnell gehen.

Angekommen am Ortsausgang von Konstanz ist der Plan für Dreier, Stoiber und den kurze Zeit später eingetroffenen Notarzt, Maurizio Betti, klar: Solange wiederbeleben, bis die Patientin – in diesem Fall eine Frau Mitte 50 – wieder einen eigenen Herzschlag hat, oder die Herzdruckmassage keinen Sinn mehr ergibt.

Hektik beim Einsatz: Die gibt es nur im Kino oder Fernsehen
Die Frau ist wohl am Steuer bewusstlos geworden und deshalb in den Gegenverkehr gerollt. Der Unfall selbst sieht harmlos aus und ist nicht der Auslöser ihres Herzstillstands. Stünden Tobias Stoiber nicht die Schweißperlen auf der Stirn; würden nicht etliche Hände um das Leben der Frau kämpfen; umringten nicht Augenzeugen den vom Blaulicht erleuchteten Unfallort: Die Szenerie würde befremdlich ruhig wirken.

Keine Hektik, keine lauten Rufe, kein Drama wie im Film. „Dass wir wild neben der Trage herrennen und einen Patienten wiederbeleben, kommt in Wahrheit nicht vor“, wird Stoiber während einer späteren Pause sagen. Erst wenn das Herz wieder selbstständig schlägt, geht es mit dem Rettungswagen in die Notaufnahme des Konstanzer Klinikums.

Dort übergibt Notarzt Maurizio Betti die Mittfünzigerin an das Klinikpersonal. Zwei Chirurgen, eine Anästhesistin und mehrere Intensivpflegerinnen. Betti erklärt ihnen kurz, was passiert sein dürfte, wie es der Patientin geht und welche Medikamente er ihr bereits verabreichte.
„Man kann bei einem Herzstillstand nur eines falsch machen: Nichts zu tun“
„Wenn wir später wiederkommen, fragen wir nach, wie es ihr geht“, sagt Malteser-Sanitäter Thomas Dreier. Zumindest die Nacht, das wird im Laufe des Dienstes klar werden, überlebt die Frau auf der Intensivstation. „Aber nach Schichtende morgen früh muss das Thema für uns auch beendet sein.“

Zu den Überlebenschancen der Frau sagt er nach der Rückkehr zur Wache an der Friedrichstraße: „Gut möglich, dass sie das Krankenhaus zu Fuß verlässt.“
Glück oder Zufall haben es so gewollt, denn direkt neben dem Unfallort in der Radolfzeller Straße lebt ein Arzt und hat die Frau wiederbelebt. Bei einem Herzstillstand zähle jede Sekunde, sagt Dreier. An Ersthelfer appelliert er für diese Fälle: „Man kann bei einem Herzstillstand nur eines wirklich falsch machen: Nichtstun, denn das bedeutet ziemlich sicher den Tod.“
Zwischen den Einsätzen: Aufräumen und kontrollieren
Als die beiden an der Wache ankommen ist klar: Es wird eine Weile dauern, bis RTW 12/83 wieder losfahren wird. Medikamentenkoffer müssen aufgefüllt, das mobile EKG-Gerät wieder hergerichtet, die Trage wieder für nächste Patienten bereit sein.

Eine Pizza gegen den Hunger
Erst wenn sich Dreier und Stoiber bei der Integrierten Rettungsleitstelle in Radolfzell zurückmelden, werden ihre Melder wieder piepen und vibrieren.
Bis dahin? „Pizza?“, fragt Thomas Dreier. „Pizza“, bestätigt sein Kollege – in der Gewissheit, jeder Bissen könnte vom nächsten Notfall unterbrochen werden.

Vier bis fünf Mal pro Nacht rücke jedes der drei Teams von Maltesern und Deutschem Roten Kreuz an Wochenenden aus, sagt Thomas Dreier. Mit steigender Tendenz. „Die Erwartungshaltung der Menschen gegenüber dem Rettungsdienst ist größer geworden“, stellt er fest. Tobias Stoiber erinnert sich an einen speziellen Fall. „Wegen eines auf einer Herdplatte verbrannten Daumens gerufen zu werden, da musste ich schon tief durchatmen.“
Die Fahrt im Rettungswagen übernimmt die Krankenkasse, das Taxi kostet extra
Bei immer mehr Patienten herrsche die Meinung: Warum soll ich mit dem Taxi in die Notaufnahme, den Rettungswagen bezahle ich mit meinem Krankenkassenbeitrag sowieso. Zudem wollen sich zum Beispiel Pflegekräfte in Seniorenheimen juristisch absichern und rufen auch bei kleineren Zwischenfällen die Rettung. Dreier kann das verstehen: „Wer übernimmt die Verantwortung, wenn der vermeintlich harmlose Sturz doch dramatische Folgen hat?“
Es geht inzwischen auf Mitternacht zu. Während die beiden Sanitäter mit der Dokumentation des Einsatzes wegen des Unfalls in Wollmatingen beschäftigt sind – seit einiger Zeit geschieht das teils digital per Tablet – frage ich mich zum ersten Mal: Ab wann kann ich es riskieren, eine Runde zu schlafen?
„Ich rate dir davon ab, vor Mitternacht ins Bett zu gehen“ sagt Stoiber. Die Erfahrung zeige: Mit fortschreitender Nacht erhöhen sich die Fahrten noch einmal. „Die Leute waren unterwegs und machen sich langsam auf den Heimweg, außerdem haben die Diskos ja noch eine ganze Weile Betrieb“, meint Tobias Stoiber. Genug zu tun sei auch ohne Einsatz: Büroarbeit, auch das erledigen Sanitäter während der Nachtschicht.
Der zweite Einsatz: Eine ältere Frau hat Schmerzen im Bauchraum
Von einer Disko könnte das Ziel des nächsten Einsatzes kurz darauf nicht weiter entfernt sein, räumlich wie sachlich: die Seniorenresidenz Tertianum am Fischmarkt.

Eine ältere Frau klagt über Schmerzen im Bauchraum, wie dem Bordcomputer im Rettungswagen zu entnehmen ist. Höchster Zeitdruck besteht nicht, dennoch fahren die beiden mit Blaulicht in Richtung Altstadt. Am Sternenplatz blitzt es zweimal, als die beiden über die rote Ampel fahren, die Straßen sind leer gefegt. Am Tertianum angekommen, herrscht Verwunderung. „Wer hat Sie denn gerufen?“, fragt eine sichtlich verdutzte Pflegefachkraft.

Nach einer Tour durch die weitläufigen Gänge des Altbaus, nachdem es mit dem Fahrstuhl hinauf und wieder hinunter geht, stellt sich heraus: Die schmerzgeplagte Frau und ihr Ehemann leben zwar im Tertianum, haben aber keinen Pflegevertrag, das Personal hat entsprechend nichts von dem Notruf erfahren.
Die Frau sagt, als wir bei ihr ankommen, es schmerze nun auch im Rücken und in der Brust. Das EKG zeigt jedoch keine größeren Auffälligkeiten. Was tun? Thomas Dreier redet ruhig auf die Dame ein. „Diese Nacht schlafen Sie sowieso nicht mehr“, sagt er ihr, „im Krankenhaus kann Ihr Blut untersucht werden und Sie sind auf der sicheren Seite.“ Die Frau hat wenig Lust, die warme Wohnung zu verlassen. Dazu zwingen können die Sanitäter sie nicht.
Wenig später hat Dreier sie aber dazu gebracht. Weil er ihr Selbstbewusstsein genutzt hat und sie das Gefühl hat: Ich allein habe entschieden, besser ins Krankenhaus zu gehen. Am frühen Sonntagmorgen wird klar sein: Eine stark vergrößerte Gallenblase war verantwortlich für die Schmerzen, die Frau muss operiert werden.
Der letzte Einsatz: Feierabend vor der Disco
Um 5.26 ist mir klar, was Tobias Stoiber bei Schichtbeginn meinte, als er sagte: „Den Melder bekommst du mit, keine Sorge.“ Es piept einige Male, vibriert am Gürtel und ich stehe im Bett, das mit bereitgestellt wurde. Wenige Minuten vorher habe ich übermütig entschieden, dass heute nichts mehr passieren werde. Im Bett liege ich schon lange, aber die Augen zu schließen traute ich mich nicht. Ich hätte gewarnt sein können.
Gegen 5 Uhr schließen die Konstanzer Diskos. Als Tobias Stoiber im Rettungswagen nach hinten ruft: „Und, was glaubst du?“, murmele ich nur: „Grey?“. Ich hatte leichtes Spiel, die Nachtschichten enden laut der beiden Sanitäter nicht selten bei Einsätzen im Dreieck Industriegebiet-Fürstenberg-Oberlohn. „Nach Schlag ins Gesicht einmal zugeschwollenes Auge, Polizei auf der Anfahrt“ zeigt der Bordcomputer an.

Am Grey angekommen, herrscht torkelnde Feierabendstimmung. Die Polizei ist mit mehreren Kräften vor Ort. Angestellte des Sicherheitsdiensts werden befragt, einer entgegnet einem Polizisten: „Wäre es eigentlich, nur so grundsätzlich, ein Problem, wenn ich etwas getrunken hätte?“ Am Eingang stakst Dreier und Stoiber, begleitet von einer Polizistin, ein junger Mann entgegen.

Das rechte Auge sieht übel aus, behandeln lassen will sich das Geburtstagskind – der 25. soll es laut seiner Aussage sein – aber nicht. „Ich will zu meiner Mama, lassen Sie mich in Ruhe, ich bin Deutscher, ich habe Rechte.“
Mit Ruhe gegen die Schimpftiraden
Zunächst hat er das Recht, seinen Blutalkoholwert per Atemtest bestimmen zu lassen. 2,2 Promille werden angezeigt. Auch diesmal versucht Thomas Dreier es mit ruhiger Überzeugungskraft. Man sollte sich das Auge im Krankenhaus ansehen, empfiehlt er dem jungen Mann, der darauf mit Schimpftiraden antwortet. Den Wortlaut kann man sich denken, zitierfähig ist er nicht.
Schließlich geht es doch zu viert bis ans Klinikum, aber nur zu dritt auch durch die Tür zur Notaufnahme. Der junge Mann rennt beim Aussteigen aus dem Rettungswagen weg. Was bleibt: eine sogenannte Leerfahrt und nur deshalb kein schwieriger Fall für die Abrechnung bei der Krankenkasse, weil Thomas Dreier die Personalien von der Polizei erhält.
Eine kalte Pizza zum Frühstück
Kurz nach 6 Uhr erreichen wir wieder die Friedrichstraße.
Jetzt noch eine Stunde schlafen? „Dann würden wir gleich bis mittags liegen bleiben“, meinen die beiden Sanitäter und entscheiden: Die eine Stunde bleiben wir wach. Der Pieper bleibt still, die Zahl der Einsätze liegt heute unter dem Durchschnitt. „Ansonsten war das fast nornmal“, sagen die beiden Sanitäter.
Auf dem Heimweg am frühen Sonntagmorgen frühstücke ich. Noch nie habe ich mich so über kalte Pizzareste gefreut.
Hinter der Geschichte
Warum berichtet der SÜDKURIER eigentlich häufiger über die Einsätze der Feuerwehr als über die anderen Rettungskräfte? So lautete die Ausgangsfrage, die sich die Redaktion gestellt hat, zuletzt nach dem Brand des Klinikums im vergangenen Herbst.
- Der erste Kontakt fand im Rahmen eines Porträts einer Helferin im so genannten Einsatzkräfte-Nachsorge-Team statt, die nach schwereren Einsätzen das Gespräch mit beteiligten Rettungskräften sucht.
- Schnell war klar wie vielfältig die Aufgaben der Konstanzer Hilfs- und Rettungsdienste sind: Die reichen von der Betreuung von Senioren bis zur Fahrt im Rettungswagen.
- Neben den Maltesern setzen sich in Konstanz auch Mitglieder des Deutschen Roten Kreuz, der DLRG, des THW – häufig ehrenamtlich – als Helfer in der Not ein.