Frau Engel, Sie führen ein Geschäft in der Altstadt und haben sich wegen der Bettler schon mehrfach an die Stadt und an die Polizei gewandt. Warum?
Claudia Engel: Aus mehreren Gründen. Es stört mich massiv, wenn körperliche Gebrechen vorgegeben werden, die nicht existieren. Das ist eine Anmaßung gegenüber denen, die wirklich eine Behinderung haben. Natürlich ist es auch geschäftsschädigend, wenn die Kunden vor dem Laden bedrängt werden.
Zum anderen werden da arme Menschen in organisierten Strukturen von Hintermännern auf die Straße geschickt und ausgebeutet. Mit normalem Betteln hat das nichts mehr zu tun. Vor unserem Geschäft saß einmal eine Frau mit einem etwa dreijährigen Kind, das den ganzen Vormittag schlief. Es ist nicht normal, wenn ein Kind den halben Tag schläft. Es muss ruhig gestellt worden sein, was eigentlich nur mit Medikamenten möglich ist. Also habe ich die Polizei gerufen.
Haben Sie die Mutter vorher angesprochen?
Claudia Engel: Ja, aber sie hat mich nicht verstanden. Ich hatte ihr gesagt, sie möchte das Kind bitte nehmen und gut versorgen. Und nicht mit ihm auf der Straße sitzen.
Herr Mitsch, Betteln mit Kindern: ist das in Ordnung?
Lukas Mitsch: Ein Verbot für das Betteln mit Kindern hilft dem Kind meines Erachtens erst einmal nicht weiter. Dass es dem Kinderwohl eher entsprechen würde, wenn es im Kindergarten oder in der Schule wäre, bestreite ich natürlich nicht. Nur muss man sehen, dass wir über BettlerInnen sprechen, die zum Großteil aus osteuropäischen Ländern stammen. Die haben hier meist keine langfristige Aufenthaltsperspektive und die Kinder in der Regel keinen Platz in Einrichtungen zur Kinderbetreuung.
Daher ist davon auszugehen, dass die Mütter, wenn sie ihr Kinder beaufsichtigt wissen wollen, keine andere Möglichkeit haben, als ihre Kinder mit auf die Straße zu nehmen. Man sollte diesen Menschen erst einmal langfristig eine Perspektive bieten, bevor man sagt: Betteln ist verboten. Ein Verbot bedeutet doch letztlich nur: Aus dem Auge, aus dem Sinn.
Claudia Engel: Darum geht es nicht. Es gibt so viel Armut auf dieser Welt. Von mir aus kann sich jeder Mensch, egal, wo er herkommt, sich hier hinsetzen und um eine Unterstützung für sein Leben bitten. Aber es ist unsozial, dabei eine Behinderung vorzugaukeln, die Leute zu bedrängen und ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen. Es geht um die, die offenbar extra hierher gefahren werden, weil es für Hintermänner viel zu holen gibt. Ich habe schon selbst beobachtet, wie einer kommt und das Geld entgegennimmt. Und von diesen Menschen, die einem humpelnd den Becher unter die Nase halten, möchte ich nicht genötigt werden, Geld zu geben.
Können Sie das nachvollziehen, Herr Mitsch?
Lukas Mitsch: Ich möchte nicht bestreiten, dass da teilweise eine Behinderung dramatisiert wird oder vielleicht gar nicht vorliegt. Nur ist das weder Indiz noch Beweis für mafiöse Strukturen und die Behauptung, dass hinter all dem eine professionell organisierte Bettelmafia steht, ist auch falsch.
Freunde von mir und ich haben auch in Konstanz mit Bettlern gesprochen. Das sind größtenteils Sinti und Roma, die in der Slowakei oder in Bulgarien in Armut leben. Menschen, die natürlich aus einer wirtschaftlichen Not heraus nach Deutschland kommen – aber nicht von irgendwelchen Hintermännern dazu gezwungen werden. Einer dieser Bettler hat mal Geld für einen Arzt gebraucht, weil er starke Zahnprobleme hatte. Eine Frau meinte, es reicht, wenn man ihr ein paar Klamotten vorbei bringen würde. Ein Dritter meinte, er bräuchte heute nur ein Abendessen.
Es ist doch auch so: Die Bettler werden regelmäßig kontrolliert und das Geld wird teilweise beschlagnahmt. Da ist es nachvollziehbar, dass sie es anderen Personen, meinetwegen immer denselben, abgeben. Das heißt aber nicht automatisch, dass diese Personen Hintermänner sind, die sie in irgendeiner Form erpressen.
Claudia Engel: Ich halte das für sehr gutgläubig und auch ein bisschen naiv, zu sagen: Dahinter steckt überhaupt keine kriminelle Energie. Es gibt meines Wissens eben auch diejenigen, die sich in den Herkunftsstaaten ein ausgesprochen gutes Leben machen – von dem Geld, das andere sich hier erhumpeln müssen. Es gibt sehr viele Indizien für diese mafiösen Strukturen. Das Problem ist nur, dass sie sich schwer beweisen lassen. Es ist länderübergreifende Polizeiarbeit, diese Geldströme zu verfolgen. Und das kostet Zeit und Energie.
Das sagt die Polizei
Konkrete Anhaltspunkte auf mafiöse Strukturen hinter osteuropäischen Gruppen hat Dirk Hoffmann nicht. Er leitet das Konstanzer Revier der Landespolizei. Wenn die Beamten und Mitarbeiter der Ortspolizei Bettler kontrollierten, spreche der Einzelne natürlich nicht über Organisationsstrukturen. Zu Bürgeramtsleiterin Anja Risse sind allerdings schon Meldungen gedrungen, wonach Bettelnde morgens aus großen Limousinen ausgestiegen seien. Das legt zumindest den Verdacht von organisierter Kriminalität nahe.
Hier am Tisch können wir nicht klären, ob es wirklich kriminelle Strukturen in Konstanz gibt. Was aber bleibt, ist die Frage: Inwieweit müssen wir, denen es in dieser Stadt gut geht, das Betteln auch aushalten?
Lukas Mitsch: Wir sind uns sicher einig darin, dass es für wirklich aggressives Betteln eine Grenze gibt. Ich will auf der Straße nicht beleidigt, angefasst oder festgehalten werden, wenn ich keine Spende gebe. Das ist aber auch noch nie vorgekommen und ich wohne seit mehreren Jahren in der Altstadt.
Die städtische Kampagne richtet sich aber gar nicht gegen diese Formen von aggressivem Verhalten, sondern zieht die Grenze des Zumutbaren sehr viel enger. Die ebenfalls städtisch initiierte Auflösung von Schlaflagern scheint zudem überhaupt nicht zwischen angeblich aggressiven und stillen Betteln zu unterscheiden.
Anders als die Stadtverwaltung glaube ich im Übrigen schon, dass den Konstanzer Bürger etwas zugemutet werden kann. Es kann ihnen zugemutet werden, dass sie Frauen mit Kindern auf dem Schoß sehen, die betteln. Oder dass sich Bettler kniend in die Fußgängerzone setzen und man einen kleinen Umweg nehmen muss. Oder Bettler auf einen zugehen, Blickkontakt suchen und eine kleine Spende verlangen. Es gibt eben Armut, und vor der kann man gerade in so einer reichen Stadt wie Konstanz nicht die Augen verschließen.
Claudia Engel: Ich finde, es kann mir nicht zugemutet werden, mich moralisch unter Druck zu setzen, mit Dingen, die erfunden sind. Wenn ich jemanden auf den Knien sitzend sehe, das Gesicht verdeckt und nebendran der Asthma-Spray: Dann soll ich denken, dass dieser Mann oder diese Frau krank ist und meine Unterstützung braucht. Und beim nächsten Mal komme ich vorbei und derjenige sitzt da und raucht. Ich empfinde das als ausgesprochen unmoralisch.
Lukas Mitsch: Stellen wir uns vor, eine Frau muss mit ihrem Betteleinkommen ihren Mann und ihre Kinder versorgen. Wenn sie sich normal hinsetzt, bekommt sie vielleicht fünf Euro am Tag. Wenn sie sich mit dem Asthmaspray daneben mitten in den Weg setzt, sind es vielleicht 25 Euro am Tag. Das passiert aus der wirtschaftlichen Not heraus, und das halte ich für schwierig, aber nicht immer verwerflich.
Aber bei wirtschaftlichen Nöten gibt es in Deutschland ein soziales Hilfssystem.
Lukas Mitsch: Das hilft nicht allen. Gerade Menschen aus dem EU-Ausland, die keinen dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland genießen, haben in der Regel keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Dies trifft wohl auch auf die meisten Bettelnden zu, über die wir sprechen.
Claudia Engel: Ich möchte Ihnen noch ein Beispiel geben: Ich habe mal einen Mann angesprochen, dass er für das Geld, das er den ganzen Tag erbettelt, auch bei uns für 12 Euro in der Stunde arbeiten kann. Wir haben immer mal Bedarf an Aushilfsarbeitern. Er meinte dann nur, dass sich das nicht lohnt. Es ist eine persönliche Einstellungssache, wie man sein Geld verdienen möchte, aber ich meinte daraufhin, dass er mich dann auch nicht mehr um eine Geldspende bitten soll.
Das will die Informationskampagne der Stadt
Seit dem Frühjahr hängen in Konstanz Informationsplakate. Über diese sollen Touristen und Bürger aufgeklärt werden, dass das stille Betteln in Konstanz erlaubt ist, aber nicht das aggressive, aufdringliche und körpernahe Ansprechen, das Versperren des Weges oder eine bedrängende Verfolgung. Laut städtischem Presseamt seien die Reaktionen der Bürger auf die Info-Kampagne bislang sehr positiv, es gibt im Internet aber auch Kritik an der Kampagne, immer wieder werden die Plakate überschmiert. Die Stadt bekomme in letzter Zeit zudem wieder häufiger Meldungen zu zwei Bettlern und dass die Aktion nicht mehr wirke. Die Stadt versucht aber nach Angaben des städtischen Pressebüros weiterhin mit Kontrollen und Lagerräumungen konsequent dran zu bleiben, was aber nicht immer einfach sei, da die Personen sich zurückziehen, sobald die uniformierten Kollegen kommen.
Frau Engel, Sie befürworten die Informationskampagne der Stadt. Es gibt aber auch Kritik. So schreibt beispielsweise jemand auf Facebook: „Seit diese Plakate hängen, ist zu beobachten, dass durch die Einkaufszonen flanierende Menschen und die Laden-Besitzer, bettelnden Menschen respektlos und unverschämt entgegen treten. Und ihre bis dahin oftmals zurückgehaltene Ablehnung offen ausleben. Es vergeht einem, durch die Stadt zu gehen und zu beobachten, wie bettelnde Menschen angespuckt, körperlich angegangen und beleidigt werden. Ist es das, was die Stadt erreichen wollte?“ Was sind Ihre Erfahrungen diesbezüglich?
Claudia Engel: Seit die Plakate hängen, gibt es mehr Diskussionen. Gerade den Schweizer Kunden war es nicht bewusst, wie das hier teilweise läuft und wie das Sozialsystem in Deutschland funktioniert. Die kommen dann über die Grenze und denken: „Hier in Deutschland wird mit den sozial schwachen Menschen ganz schlimm umgegangen. Da sind wir jetzt mal ganz großzügig und holen etwas mehr raus.“
Dass jetzt quasi die Hemmschwellen fallen, wie Sie es beschrieben haben, habe ich nicht ein einziges Mal erlebt. Eher andersherum. Als wir die Bettler vor unserem Geschäft aufgefordert haben, die Leute nicht mehr direkt aggressiv anzusprechen, ist uns in jedes einzelne Fenster gespuckt worden. Es ärgert mich einfach auch. Ich finde das ist kein schönes Verhalten und ich bin dennoch weit davon entfernt, rauszugehen und Bettler anzuspucken.
Herr Mitsch, haben Sie andere Erfahrungen gemacht?
Lukas Mitsch: Ich habe zweimal einen Spruch wie: “Verpiss Dich!“ oder „Schmarotzer“ gehört. Es gab daraufhin auch ein kurzes Wortgefecht zwischen dem Passant und dem Bettler. Aus meiner Sicht hat sich das Klima in der Stadt schon geändert, seit es die Kampagne gibt. Jetzt hat man sozusagen die Stadt im Rücken und damit die Rechtfertigung, nichts zu geben. Kein schlechtes Gewissen mehr.
Sandra Pfanner: Eines der Plakate wurde mit „Fuck all Cops“ beschmiert. Ist das der richtige Weg für Kritik?
Lukas Mitsch: Zielführend war das nicht unbedingt. Aber es zeigt, dass die Konstanzer BürgerInnen nicht alle auf der Seite der Stadt stehen. Es gab ja auch andere Formen der Kritik. Es gibt verschiedene Ansatzmöglichkeiten, aber diese Informationskampagne beseitigt weder die Armut noch die soziale Diskriminierung der Menschen, sondern verschärft sie.
Sandra Pfanner: Die wären?
Lukas Mitsch: Man sollte versuchen, die Probleme in den Herkunftsländern zu lösen. Man kann hier vor Ort Streetworker oder Sozialarbeiter zu den Bettelnden schicken, die sich wirklich ihrer Probleme annehmen.
Frau Engel, ist das, was jetzt mit der Kampagne passiert, tatsächlich nur reine Stadtkosmetik? Verlagert sich so das Problem nur, ohne die Ursache zu bekämpfen?
Claudia Engel: Das kann man sehen, wie man will. Natürlich kann sich so das Problem in andere Städte verlagern, die dann das aggressive Betteln vielleicht auch verbieten. Aber wenn es organisierte Strukturen sind, in denen Menschen ausgebeutet werden, um den Reichtum eines anderen zu mehren, dann gilt es, so ein System auszutrocknen.
Das tut die Ortspolizei
Wenn die Ortspolizei von aggressiven Bettlern das eingenommene Geld einzieht, sind die Beträge gering. Im vergangenen Jahr hat das Bürgeramt 116 Bußgeldverfahren eingeleitet, bis Mitte Juli waren es rund 40. Bis zu 500 Euro teuer kann das aggressive Betteln werden, das die Stadt Konstanz als unerlaubte Sondernutzung nach dem Straßengesetz ahndet. Unter dem Strich blieb als Begleichung der Strafe das eingezogene Bettelgeld.
Lukas Mitsch: Und wenn man dann deutschlandweit ein Bettelverbot hat, dann geht es den Leuten besser?
Claudia Engel: Es geht nicht um ein Bettelverbot, sondern um die Art, wie gebettelt wird.
Lukas Mitsch: Nun gut, dann geht diese angebliche Bettelmafia dazu über, zu sagen: „ Dann bettelt halt still.“ Meiner Meinung nach heiligt manchmal der Zweck auch die Mittel. Es ist schwierig die Art und Weise des Bettelns zu verurteilen, wenn wir nichts darüber wissen, was die Person zwingt, so zu handeln.
Frau Engel, die Frage ist ja durchaus interessant. Wäre es aus ihrer Sicht in Ordnung, wenn die Menschen, von denen wir nicht wissen, ob sie am Ende das Geld wirklich abgeben müssen oder nicht, einfach still betteln?
Claudia Engel: Schwierig. Wenn diese Menschen das Geld am Ende des Tages nicht behalten können, dann habe ich es auch dem Falschen gegeben.
Eine letzte Frage an Sie beide: Wann haben sie jeweils zum letzten Mal einem Bettler was gegeben – und warum?
Claudia Engel: Vor drei Tagen an einen Obdachlosen. Ich kenne ihn schon länger, und er kam ins Geschäft, weil es ihm gerade nicht so gut ging.
Lukas Mitsch: Ich habe ungefähr vor zwei Wochen vor meinem Urlaub etwas gegeben.