Tag für Tag muss Frank Winterhalter gut essbare Ware zum Müllerhof Kaltbrunn fahren. Dort werden belegte Brötchen und Gebäck mit Sahne verwertet – alles, was aus hygienischen Gründen nicht weitergegeben werden darf. „Wir liefern täglich rund 30 bis 40 Körbe in die Biogasanlage, dabei blutet mir das Herz“, sagt Winterhalter, Geschäftsführer der Bäckereikette Heimatliebe mit Sitz in Allensbach.
Wenn Brot, Brötchen und Süßes ohne Sahne nicht verkauft werden, geht ein Teil an die Tafeln in Konstanz und Radolfzell, einen anderen Teil bekommen Bauern für ihre Schafe, auch der Wild- und Freizeitpark in Allensbach profitiert. Das sei zwar alles sinnvolle Verwertung, sagt Frank Winterhalter, doch so ganz stellt ihn diese Lösung nicht zufrieden.
Deshalb gründet Heimatliebe nun in seiner neuen Filiale in der Brauneggerstraße im Paradies eine Brotretterei. „Wir haben diese Räumlichkeiten extra dafür von Bäcker Peter Kopp übernommen, um das neue Konzept in zentraler Lage anbieten zu können“, sagt der Geschäftsführer. Kopp hatte dort nach nur einem Jahr wieder aufgehört, weil er kein Personal mehr fand.

Ab Montag, 19. Mai, wird es in der Brauneggerstraße nur noch Ware vom Vortag zum halben Preis geben. Alle anderen 14 Heimatliebe-Filialen laufen weiter wie bisher, dort werden nur frisch gebackene Produkte verkauft. Mit der Brotretterei wolle Heimatliebe keinen Gewinn machen, sagt Frank Winterhalter: „Wenn die Kosten gedeckt sind, spenden wir den Rest an eine karitative Einrichtung“, sagt er und denkt dabei etwa an die Arche der Konstanzer Caritas.
Ein gewisse Überproduktion ist gewollt
Aber warum wird überhaupt so viel produziert, dass abends immer etwas übrigbleibt? Das fragt sich auch Kundin Corinna Weber, die um 17.30 Uhr in einer Konstanzer Filiale des Backhauses Mahl steht. Um diese Uhrzeit sind die Regale hier weitgehend leer.
Ein Mann kommt herein und sagt enttäuscht: „Da ist ja fast gar nichts mehr da, schade!“ Corinna Weber ist anderer Meinung: „Es ist großartig, dass die Auslage um diese Uhrzeit so aussieht! Früher war der Trend, dass immer alles verfügbar sein musste, aber das ist der falsche Weg.“

Die Erwartung, dass es zu jeder Tageszeit alle Sorten geben muss, beobachtet sie auch an diesem Tag. „Wer abends sein Lieblingsbrot nicht mehr beim Bäcker findet, geht nebenan in den Supermarkt und kauft Aufbackware“, sagt sie. „Dabei stirbt niemand daran, wenn er mal Dinkel statt Roggen isst.“
Auch Frank Winterhalter ist daran gelegen, so wenig wie möglich in die Biogasanlage zu bringen, wo er auch viele andere Bäcker antreffe. „Was in einer Filiale nicht verkauft wird, fahren wir abends noch an andere Standorte“, sagt er. Dennoch macht er klar: „Alle Bäcker produzieren mit Absicht zehn bis 20 Prozent zu viel, sonst könnten wir nicht überleben.“
Obwohl seine Hochleistungskassen die Nachfrage genau messen könnten, sei es immer schwer zu kalkulieren, was am nächsten oder übernächsten Tag gebraucht wird. „Das hängt sogar vom Wetter ab“, sagt er und ergänzt: „Selbst wenn wir auf den Punkt produzieren könnten, müssten wir auf zehn Prozent des Umsatzes verzichten, weil Kunden woanders hingehen, wenn sie gewünschte Ware nicht mehr vorfinden.“
Das könne sich kein Betrieb leisten. „Kostentechnisch ist es egal, ob die Leute in der Produktion noch ein paar Brote mehr backen, wenn sie eh schon da sind“, sagt Winterhalter. Denn die Rohstoffe seien das Günstigste. Personal, Miete und Energie seien die großen Kostenfaktoren.
Heimatliebe produziere zwischen drei und 15 Prozent zu viel. „Wir wollen im Schnitt bei zehn Prozent landen“, sagt der Geschäftsführer. „Nur dann können wir unseren Mitarbeitern die guten Löhne zahlen, die sie brauchen, um sich hier eine Wohnung leisten zu können.“
Künstliche Intelligenz gegen Überproduktion
Auch das Backhaus Mahl mit Sitz in Stetten am kalten Markt und knapp 50 Filialen, darunter zwei in Konstanz, setzt auf künstliche Intelligenz. „Diese Technologie ermöglicht es uns, Verkaufsdaten präzise zu analysieren, die Produktion optimal zu planen und Überproduktion zu vermeiden“, schreibt Jonas Koch, Assistent des Managements und im Controlling tätig, auf Nachfrage.
Dennoch bleibt auch hier am Ende des Tages etwas übrig. Das Backhaus Mahl gibt ebenfalls einen Teil an die Tafeln weiter. Der Rest wird zweimal pro Woche in der Zentrale abgeholt und nach Schwackenreute zwischen Stockach und Meßkirch in die Biogasanlage des Ehepaars Muffler gebracht. Dort wird Biomasse fermentiert, um Strom und Wärme zu erzeugen.

„Die entstehende Wärme versorgt über eine 700 Meter lange Fernwärmeleitung Baden-Württembergs größtes Gewächshaus für Bio-Gemüse in Mühlingen“, teilt das Backhaus mit. Auf einer Fläche von 40.000 Quadratmetern baue Benjamin Wagner von der Insel Reichenau dort hunderte Tonnen Tomaten, Paprika und Gurken in Bio-Qualität an.
Nicht gegessenes Brot hilft somit Gemüse in der Region beim Wachsen. „So können wir etwas an unser direktes Umfeld zurückgeben“, schreiben die Geschäftsführer Martin Mahl und Yvonne Mahl-Sprenzinger. Eine Art Brotretterei möchten die beiden nicht gründen: „Ziel ist es, unsere Produkte stets in optimaler Qualität und Frische anzubieten. Daher gehört der Verkauf von Ware vom Vortag nicht zu unserem Konzept.“
Unternehmen müssen erfinderisch werden
Heimatliebe eröffnet unterdessen bald seine 16. Filiale und übernimmt die ehemalige Bäckerei Kopp in Dettingen. „Außerdem planen wir noch eine Brotretterei in Radolfzell“, sagt Frank Winterhalter und begründet: „Wir benötigen eine gewisse Größe, um alle Kosten decken zu können, denn auch die Bürokratie wird immer mehr und der Staat wälzt viele Probleme auf die Unternehmen ab.“

Die müssen erfinderisch werden, etwa beim Thema Personalmangel. Heimatliebe holt Lehrlinge aus Ländern wie Malaysia, Indonesien und Vietnam und muss ihnen eine Wohnung stellen.
„Über das Gehalt oder Zuschüsse fürs Wohnen regeln wir es so, dass sie keine Miete bezahlen müssen“, so Winterhalter. „Es ist nicht mehr so einfach wie vor 20 Jahren, wo man zu Bewerbern sagen konnte: ‚Du willst eine Wohnung? Such dir woanders eine Stelle!‘“