Es ist zunächst überraschend, wenn Uwe Herwig sagt, dass es prinzipiell möglich ist, dass Patienten aus dem Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Reichenau fliehen. Der kleine Schock hält aber nur so lange an, bis der Ärztliche Direktor Psychiatrie und Psychotherapie erklärt, warum er das so gelassen sagen kann.
Anfang Juni suchte die Polizei nach einem Mann, der am frühen Morgen aus dem ZfP geflohen war. Dazu wurde ein Foto veröffentlicht, außerdem der Hinweis, dass der Mann als gewalttätig gilt. Am selben Abend meldete die Polizei, dass er freiwillig zurückgekehrt sei.

In dieser Zeit war besonders in sozialen Netzwerken der Eindruck zu vernehmen, dass solche Fälle häufig vorkommen. Die Einrichtung selbst spricht dagegen von einem absoluten Ausnahmefall. Für Herwig sei es das erste Mal in den mehr als sechs Jahren seiner Tätigkeit am ZfP, dass so nach einem entlaufenen Patienten gesucht wird. Und er betont: Dabei sei niemand zu Schaden gekommen.
Im Gespräch mit dem SÜDKURIER erklären Herwig und Jan Bulla, Ärztlicher Direktor Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, wie es passieren kann, dass sich Patienten unerlaubt vom Gelände entfernen. Grundsätzlich sei es so: Die meisten Patienten im ZfP Reichenau sind freiwillig dort. Und auch bei den Patienten, bei denen ein Gericht die Unterbringung angeordnet hat, gebe es Unterschiede, betont Bulla.

Psychiatrie ist kein Gefängnis
Auch wenn im ZfP verurteilte Straftäter untergebracht sind, es handelt sich nicht um ein Gefängnis. „Wir haben hier keinen Hochsicherheitstrakt“, sagt Herwig. Es gebe mehrere Bereiche mit verschiedenen Sicherheitsgraden. Die höchste Stufe dabei sei das Isolierzimmer. „Dort kommt man praktisch nicht raus“, sagt Herwig. Auf den geschlossenen Stationen gebe es Schleusen mit zwei verschlossenen Türen.
Allerdings gebe es ein häufiges Missverständnis. Bei einer geschlossenen Station sei es nicht so, dass niemand herauskommen könne. Im Laufe des Aufenthalts gebe es, je nach Stand der Behandlung, schrittweise mehr Freiheiten. Auch für Patienten auf diesen Stationen gebe es Ausgang auf dem Gelände, in der Gemeinde oder sogar probeweise zu Hause. Für jeden Patienten würde individuell bewertet, was möglich ist.
So gebe es etwa Gärten, wo man theoretisch nur über einen Zaun klettern müsste, um zu fliehen. Wenn sich Patienten in diesem Bereich bewegen, sei die Selbstkontrolle allerdings so hoch, dass es dazu nicht komme. Bulla ergänzt dazu: „Sicherheit besteht nicht nur aus baulichen Maßnahmen.“ Selbstbestimmung und Freiraum zuzulassen, sei Teil des Behandlungsprozesses, erklären die Fachmänner.
Es verhalte sich umgekehrt zum Strafvollzug, erläutert Bulla. Dort müsse man sich durch positives Verhalten das Mehr an Freiheiten verdienen. In der Psychiatrie wird die Freiheit dagegen nur eingeschränkt, wenn ein Risiko besteht. Grundlage dafür ist das Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten, kurz PsychKHG. Es sieht vor, dass die Unterbringung und Betreuung „bei geringstem Eingriff in die persönliche Freiheit erreicht wird“, heißt es in Paragraf 19.
Was passiert, wenn jemand flieht?
Zum Fall vom 6. Juni können Herwig und Bulla nichts sagen, sie unterliegen der Schweigepflicht. Ihre Erklärungen seien daher allgemein zu verstehen. Lediglich so viel können sie sagen: Der Mann war nicht im Maßregelvollzug untergebracht. Er war also nicht auf Anordnung eines Gerichts im ZfP.
Die Polizei hat in den vergangenen Jahren Fälle von abgängigen Personen vom ZfP-Gelände registriert. „Natürlich sind wir vorbereitet auf solche Situationen“, sagt Herwig. Was die Statistik nicht abbilden kann, ist die Dauer bis zum Auffinden der Personen.
Bei den meisten der Fälle, in denen das ZfP die Polizei hinzuzieht, besteht die Sorge, dass die Patienten sich selbst verletzen könnten. „Wir gehen natürlich auf Nummer sicher“, sagt Herwig. Herwig und Bulla betonen beide, wie wichtig ihnen die Zusammenarbeit mit der Polizei ist. Das gebe auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im ZfP Sicherheit. Diese werden von den beiden Männern mehrfach für ihre Arbeit gelobt.
Sie sind den Umgang auch mit Patienten in psychischen Ausnahmezuständen gewohnt. Die Pflegekräfte seien auch immer wieder tätlichen Angriffen ausgesetzt. Während bei Polizei und Rettungskräften zurecht konsequent darauf reagiert werde, erlebe man das bei den Pflegekräften so nicht, sagt Bulla „Es fehlt uns manchmal, dass das gesehen wird.“

Ob und wie die Polizei bei der Suche nach einer vermissten Person an die Öffentlichkeit geht, darauf habe man keinen Einfluss. Die Beamten würden mit den ihnen zur Verfügung stehenden Informationen entscheiden, wie sie verfahren.
Katrin Rosenthal, Pressesprecherin des Polizeipräsidiums Konstanz, erläutert auf SÜDKURIER-Anfrage, wann die Polizei die Suche nach einer vermissten Person öffentlich macht. „Die Öffentlichkeitsfahndung nach Vermissten ist grundsätzlich nur mit schriftlichem Einverständnis von Angehörigen oder vertretungsberechtigten Personen möglich“, sagt Rosenthal. Ohne dieses Einverständnis sei das möglich, wenn der Verdacht einer Gefährdung für die Person selbst oder Dritter besteht.
„In allen Fällen ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besonders zu beachten“, so Rosenthal. Das bedeutet: Andere Fahndungsmaßnahmen, die die Betroffenen weniger beeinträchtigen, sind zuvor bereits erfolglos verlaufen oder sie würden voraussichtlich nicht rechtzeitig zum Erfolg führen.
Die Polizei macht also nicht jede Suche nach einer Person, die sich unerlaubt aus dem ZfP entfernt, öffentlich. Wie oft wird die Polizei hinzugezogen? Im Jahr 2022 wurden 101 abgängige Personen aus dem ZfP Reichenau polizeilich bekannt, gibt Rosenthal an. 2023 waren es 66, 2024 dann 90 Personen.
Im aktuellen Jahr wurden der Polizei bis Ende Mai 32 abgängige Personen gemeldet. Hierbei wird nicht unterschieden, ob die Personen freiwillig im ZfP sind oder gerichtlich untergebracht wurden.
Wie schnell die Vermissten gefunden werden, unterscheide sich von Fall zu Fall. „Die Polizei behandelt das Verschwinden einer Person mit hoher Priorität und setzt die erforderlichen Ressourcen ein“, so Rosenthal. Eine Fahndung könne wenige Minuten oder mehrere Tage dauern.