Die Reichenau leuchtet. Die Insel im Bodensee feiert 2024 ihre legendarische Gründung vor 1300 Jahren. Sie erinnert an den heiligen Pirmin, der das verwilderte Eiland damals betrat, rodete, betete. Die stolzen Reichenauer feiern auch sich selbst; in Südbaden gelten sie als das kleine gallische Dorf, das den Stürmen einer garstigen Außenwelt standhält.

Doch gibt es noch eine andere Reichenau, eine, an der man schnell vorbeifährt, weil sie eher gemieden wird. Dabei bilden die kräftigen Häuser des Zentrums für Psychiatrie (ZfP) ein Dorf für sich mit einer Struktur, die man nicht übersehen kann. Seit 111 Jahren werden hier psychisch kranke Menschen betreut, beschäftigt und, wenn alles gut geht, geheilt.

Eine Gründungslegende weist auf Luise, Großherzogin von Baden. Der Fürstin und Wohltäterin soll aufgefallen sein, dass psychisch Kranke nur versteckt oder gequält, nicht aber behandelt wurden. Das Augenmerk der badischen Landesmutter auf die „Irrenfürsorge“, wie es damals hieß, half.

Heute hängt die Zwangsjacke im ZfP-Museum – früher wurde sie im Anstaltsalltag eingesetzt.
Heute hängt die Zwangsjacke im ZfP-Museum – früher wurde sie im Anstaltsalltag eingesetzt. | Bild: Fricker, Ulrich

Schnell wurden die ersten der wuchtigen Blöcke gebaut, vor dem Ersten Weltkrieg waren sie bezugsfertig. Revolutionär daran: Diese Anstalt war allen Schichten zugänglich. Denn zuvor wurden Neurosen oder Schizophrenien nur in teuren privaten Sanatorien in Angriff genommen.

Damals eine Irrenanstalt

Die Reichenau nahm ihren Betrieb auf, und der bewusst unscharfe Begriff kursiert bis heute. Wer auf die Reichenau kommt, so der Volksmund, der sei nicht mehr richtig im Kopf. Die aktuelle Statistik ist klüger: Seelische Erkrankungen sind weit verbreitet und Depression eine traurig machende Volkskrankheit, die in den vergangenen Jahren aus dem Dunkelreich der Stigmatisierung herausgeführt wurde.

Aus der damaligen Irrenanstalt wurde das Zentrum für Psychiatrie (ZfP), das vom Land getragen und finanziert wird: ein kleines Dorf mit den dominierenden Bauten der Gründerzeit und beeindruckender Stockwerkhöhe. Dazu kommen Bungalows aus den 80er-Jahren. Dazwischen drehen sich zwei blaue Kräne. Hier entsteht ein neues Fachpflegeheim.

Uwe Herwig, ein Mann mit zwei Doktortiteln, ist einer der Chefs auf dem Gelände. Am ZfP leitet er den Bereich Psychiatrie und Psychotherapie. „Bereits als junger Arzt hatte ich das Ziel, später eine große Klinik zu leiten“, sagt er.

Uwe Herwig (links), Ärztlicher Direktor für den Bereich Psychiatrie und Psychotherapie am ZfP, sowie Klaus Hoffmann, früher Chef der ...
Uwe Herwig (links), Ärztlicher Direktor für den Bereich Psychiatrie und Psychotherapie am ZfP, sowie Klaus Hoffmann, früher Chef der Forensik. | Bild: Fricker, Ulrich

Der drahtige Professor sitzt in Haus 8, einem der alten Häuser aus der Zeit der Mäzenatin Luise. Herwig macht es Freude, den Kaffee für seine Besucher selbst zu brühen. Im Sekretariat brennt noch kein Licht. Die Zeiten, in denen Chefärzte residierten wie einst Hofrat Behrens in Thomas Manns „Zauberberg“, die sind vorbei. Eifrig organisiert Herwig Tassen, Zucker, Milch.

Großer Arbeitgeber

Knapp 1100 Menschen arbeiten hier. Psychologen, Sozialarbeiter, Ärzte, Köche. Die Werkstätten, in denen Patienten nützliche Dinge wie Bilderrahmen anfertigen, werden von Handwerkern geleitet. Sporttherapeuten leiten das Joggen, Fahrer holen und bringen Gemüse, Gärtner pflegen die weiten Grünflächen der Heilstätte. Mit diesem Personalstamm zählt das Zentrum zu den größten Arbeitgebern im Kreis Konstanz.

Zugleich wird deutlich, wie anspruchsvoll die Behandlung von seelisch Erkrankten ist. 4000 Menschen werden hier jährlich aufgenommen und therapiert. Das häufigste Krankheitsbild ist Alkoholabhängigkeit, gefolgt von Depressionen und Schizophrenie.

Uwe Herwig hat sich auf die Behandlung von Depressionen spezialisiert. Den gefühlten Anstieg der Zahl von Betroffenen kommentiert er so: „Ich kann nicht sicher sagen, ob es heute mehr depressive Menschen gibt als früher. Aber es werden immer mehr Depressionen diagnostiziert.“ Mit seinen Kolleginnen und Kollegen sucht er neue Therapien, um das Phänomen in den Griff zu bekommen.

Verursacht zu wenig Bewegung psychische Probleme?

Der behutsame Einsatz von Psychedelika könne einen Weg weisen, sagt er. Bei den Ursachen ist sich der Psychiater sicher: „Viele Menschen geraten aus dem psychischen Gleichgewicht, weil sie sich zu wenig bewegen.“ Für den Geist und das gesamte Befinden sei körperliche Aktion wichtig.

Ob im ZfP-Museum oder in der Arbeit der Therapeuten und Pflegekräfte: Physische Gewalt ist auch heute auf der Reichenau ein Teil des Alltags. Herwig sagt ohne Umschweife: „Manchmal müssen wir Patienten fixieren. Uns bleibt nichts anderes übrig.“ Was Außenstehenden merkwürdig erscheint, ist nur ein Ausschnitt des Alltags. Um Verletzungen oder Sachschäden zu vermeiden, werden die Betroffenen im äußersten Fall fixiert oder isoliert.

Die Einschränkung persönlicher Freiheit ist stets heikel. Wie sehr, das zeigt der Jahresbericht der „Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter“. Diese staatlich geförderte Stelle kontrolliert regelmäßig die Psychiatrien in Baden-Württemberg. Einer ihrer Kontrollbesuche führte sie in die Forensische Abteilung am ZfP Bad Schussenried (Kreis Biberach).

Der Befund erschütterte manchen: „Das Einschlusszimmer für gewaltbereite, psychisch erkrankte Straftäter sei bei einem Kontrollbesuch hoffnungslos überbelegt gewesen“, berichtete der SWR Anfang September. Der Besuch der Toilette sei diskret nicht möglich gewesen, wird in dem Report angemerkt. Die Abteilung versprach Besserung und verwies auf allfällige Bauarbeiten an den monierten Räumen. Das Zentrum Reichenau wird in der Analyse nicht erwähnt.

Ein dunkles Kapitel

Auf einer Wiese steht ein Denkmal für die Opfer der NS-Euthanasie, in die auch die Anstalt auf der Reichenau einbezogen war. Die teils stehenden, teils stürzenden Stelen erinnern an die 508 Insassen der damaligen Anstalt, deren Leben von der NS-Führung und von willfährigen Ärzten als lebensunwert eingestuft wurde. Die Kranken waren 1940/41 in mehreren Schüben in die berüchtigten grauen Busse verfrachtet und nach Grafeneck auf der Alb sowie nach Hadamar (Hessen) transportiert worden. Dort wurden sie vergast.

Klaus Hoffmann hat sich lange mit dieser Zeit befasst. Es bedrückt hörbar, dass Kollegen im vorigen Jahrhundert an der Mordaktion mitwirkten. Nach 1945 redeten sich die Anstaltsärzte heraus, sie hätten nicht gewusst, was mit ihren schutzlos gewordenen Schützlingen geschehen würde.

Ein wenig stolz ist er auf etwas anderes: „Das ZfP Reichenau war die erste Psychiatrie im Land, die der Opfer der Euthanasie gedenkt.“ Er hat seinen Beitrag dazu geleistet und das eindrucksvolle Mahnmal aus der Hand des Bildhauers Alexander Gebauer angeschoben. „Das war auch ein schmerzhafter Prozess“, räumt er ein.

Als erste Psychiatrie im Land setzte die Reichenau den Opfern der Euthanasie ein Denkmal.
Als erste Psychiatrie im Land setzte die Reichenau den Opfern der Euthanasie ein Denkmal. | Bild: Fricker, Ulrich

Noch 1988, als die stürzenden Stelen mit der erklärenden Inschrift aufgestellt wurden, gab es dagegen Widerstände. „Einige aus der Belegschaft wollten das nicht“, erinnert er sich. Es könne dem guten Ruf schaden, fürchteten sie. Doch das Denkmal kam und hält das ungeheuerliche Geschehen bis heute fest.

Die Zwangsjacke

  • Anstaltskleidung: 1913 wurde die Einrichtung als „Großherzoglich Badische Heil- und Pflegeanstalt bei Konstanz“ gegründet. Vielsagend ist der Zusatz „bei Konstanz“. Denn politisch gehörten die damals unbebauten Wiesen zur Reichenau, deren Gemarkung sich bis auf das Festland erstreckt und großen Waldbesitz umfasst. Als die Reichenau im späten Kaiserreich ihre Arbeit aufnahm, waren die Bedingungen streng. Die Anstaltskleidung bestand aus einem zweiteiligen Pyjama, der blau-weiß gestreift war – und stark einem Häftlingsdrillich ähnelte.
  • Instrument der Zähmung: Die Patienten nannte man damals noch Insassen. Wer körperlichen Widerstand zeigte, wurde in die berüchtigte Zwangsjacke gesteckt. Diese Jacken, die die Arme an den Körper zwingen, werden auch in der Forensischen Abteilung (aktuell 130 Betten) nicht mehr benutzt. Das wunderliche Kleidungsstück aus dickem Leinen kann der Besucher nur noch im Museum des Reichenauer ZfP in Augenschein nehmen. An einem Kleiderbügel hängt das ausrangierte Instrument der Zähmung, das die Arme des Patienten so verpackt, dass dieser sich kaum rühren kann. Mit dicken schwarzen Knöpfen wird die Zwangsjacke von hinten geschlossen. (uli)