Es klingt wie eine tragische Ironie des Schicksals, dass Hermann Albrecht am 5. Januar 1968 mitten in seiner zweiten Amtszeit einem Herzinfarkt erlag. Einem zweiten, wie sich seine Tochter Ursula Schäuble (78) erinnert. Den ersten habe er fünf Jahre zuvor erlitten, im Jahr seiner Wiederwahl, bei einer Autofahrt in der Schweiz. Gerade Albrecht hatte in Radolfzell mit der Mettnaukur die Vorbeugung und Heilung von Herzkreislaufkrankheiten auf den Weg gebracht und damit der „Managerkrankheit“ den Kampf angesagt. Heilung durch Bewegung war seine Idee, war sein Projekt und das beschrieb Bürgermeister Albrecht so: „Arzt und Sportlehrer bestimmen die Kur, dort können all jene, die unter gewissen Störungen oder unter Erscheinungen der Managerkrankheit leiden, in relativ kurzer Zeit wieder zur vollen Leistungskraft gelangen.“

Doch Albrecht hatte damals mächtige Gegner in der Stadt und im Gemeinderat. Konrad Dombrowski, wortgewaltiger Stadtrat der Freien Wähler, gab die Losung aus: „Die Mettnaukur – ein Fass ohne Boden.“ Und es gab Gegner in der eigenen Verwaltung. „Unser Vater musste erkennen, dass Politik auch ein schmutziges Geschäft sein kann.“
Mit am Esszimmertisch von Ursula Schäuble sitzen ihre Geschwister Dorothea Nobs (79) und Günter Albrecht (76). Ursula Schäuble wollte sich des gemeinsamen Gedächtnisses versichern, wenn das Leben ihres Vaters im Rückblick noch einmal aufgerollt wird. Ruth Görgen (65), das vierte Kind von Rosel und Hermann Albrecht, sei verhindert. Das Gedächtnis aller drei kommt zum selben Ergebnis: „Das war ein Kapitel für sich, die Mettnaukur hat unserem Vater sicher geschadet.“
Die Mettnau war heiliges Land
Ursula Schäuble fühlt sich bei den Diskussionen heute über die Mettnaukur an die fünfziger und sechziger Jahre erinnert: „Die Mettnau war heiliges Land.“ Schon damals sei es um das Gelände und die Frage gegangen: „Wie kann man den Radolfzellern die Mettnau wegnehmen?“ Doch Hermann Albrecht hatte einen Plan, er wollte den Radolfzellern nicht die Mettnau wegnehmen, er wollte Radolfzell touristisch mit einer eigenständigen Marke positionieren. Dorothea Nobs hat die Argumente ihres Vaters noch im Ohr: „Wir liegen zwischen Konstanz und Singen: Konstanz hat die Kultur, Singen die Industrie, also muss Radolfzell was ganz anderes machen.“ Das sei der Anstoß gewesen für die Mettnaukur. Von Tourismus habe sein Vater was verstanden, ergänzt Günter Albrecht: „Während seiner Zeit in Neustadt war er Leiter des Verkehrsverbunds Hochschwarzwald.“
Trotz der Belastungen, die das Amt mit sich bringt, sind seine Kinder noch heute überzeugt: „Bürgermeister war sein Traumberuf.“ Dass Hermann Albrecht, als Kreisamtmann und Geschäftsführer der Kreisverwaltung in Neustadt, sich im Jahr 1955 um den Bürgermeisterposten in Radolfzell bewarb, sei seinem Chef und Landrat Alfred Mallebrein zu verdanken, berichtet Günter Albrecht. In Donaueschingen sei ein Bürgermeister gesucht worden und Hermann Albrecht interessiert gewesen. „Mallebrein hat zu ihm gesagt: In Donaueschingen ist der Fürst der Bürgermeister, geh’ lieber nach Radolfzell, dort kannst du etwas gestalten.“
Dann ist es Radolfzell geworden. Der Gemeinderat konnte sich 1955 nach drei Wahlgängen auf keinen Kandidaten von 32 Bewerbern einigen. Hermann Albrecht war die Nummer 28 und trat mit dem Slogan an: „Wählt die 28.“ Der Slogan ging dann bei der direkten Wahl durch die Bürgerschaft auf, Albrecht wurde mit großem Abstand und 61,9 Prozent der Stimmen gewählt. Albrecht pendelte ein Jahr nach Neustadt, dann zog die Familie nach Radolfzell und in die städtische Bürgermeisterwohnung im Haus in der Jakobstraße 11 ein. Dorothea Nobs fing bei der Sparkasse an, Ursula Schäuble setzte ihre kaufmännische Lehre bei der Weinhandlung Mayer fort, Günter Albrecht ging aufs Gymnasium. Der Auftrag an die Bürgermeisterkinder lautete: „Immer schön die Leute grüßen“, lacht Dorothea Nobs.
Neben Kritikern gab es auch viele Bewunderer
In der Stadtverwaltung gab es nicht nur Kritiker und Gegenspieler, sondern auch Bewunderer. Wilhelm Graf, damals in der Finanzverwaltung für alle Abrechnungen und Abschlüsse zuständig, sagt heute noch: „Albrecht war ein toller Mann.“ Den Respekt verschaffte sich der neue Bürgermeister mit einer Anschaffung. Den Vorschlag von Graf, einen Ankerbuchungsautomaten mit 44 Zählwerken für 40 000 Mark zu bestellen, setzte Albrecht im Gemeinderat durch. So etwas steht in keiner Chronik, doch für Graf war diese Maschine eine große Erleichterung: „Mit diesem Automaten konnten wir alle Geldvorgänge abwickeln.“
Albrecht setzte auf Personen, denen er vertraute und die er selbst auswählte. Als Präsident des Bundes deutscher Volksmusikverbände war ihm die Entwicklung der städtischen Musikschule ein großes Anliegen. Den jungen Heinrich Braun warb er 1964 kurzerhand der Stadt Lindau als Musikdirektor ab. Albrecht war Zeuge, wie Braun als Dirigent mit seinem heimischen Musikverein Hochdorf die beste Note bei einem Wettbewerb erzielte.
Heinrich Braun hatte in Radolfzell einen klaren Auftrag: „Albrecht hat zu mir gesagt: Die Ausbildung der Jugend ist das Gebot der Stunde.“ Der neue städtische Musikdirektor musste ein Rundschreiben an alle Schulen aufsetzen, die Stadt lud – heute würde man sagen – zum ersten Massen-Casting ein. In den Hallen der Teggingerschule und der Ratoldusschule testete Braun alle, die gekommen waren, auf ihre musikalische Begabung: „Ich gab einen Rhythmus vor, den mussten sie nachklatschen. Ich gab einen Ton vor, den mussten sie nachsingen.“ Wer sich bei der Eignungsprüfung empfahl, bekam für seine Ausbildung ein Instrument aus dem Bestand der Musikschule. „Die Eltern zahlten für ihre Kinder sechs Mark im Monat und ich unterrichtete alle Instrumente von der S-Klarinette bis zur Tuba.“
Die Jugendmusikschule Radolfzell ist seither Legende. Wie die Kur. Hermann Albrecht holte als Sportlehrer Willi Stadel von Konstanz nach Radolfzell, er war Mannschaftsolympiasieger im Turnen 1936. Willi Stadel verkörperte lange wie kein anderer den Anspruch „Heilung durch Bewegung“. Hermann Albrecht hatte ein außergewöhnliches Gespür für Menschen, die seine Ideen weit über seinen Tod hinaus verwirklichten. Sein plötzlicher Tod am 5. Januar 1968 war für Heinrich Braun „eine persönliche Katastrophe“, für Willi Graf „ein Schock“. Und seine Kinder sagen noch heute: „Es war viel zu früh.“ Hermann Albrecht starb mit 53 Jahren.

Rosel Albrecht war eine Stütze der Familie und der Stadt
Von Kollnau nach Radolfzell – Rosel und Hermann Albrecht stammen aus dem selben Ort im Elztal bei Waldkirch
- Rosel Albrecht, die Stütze: Auf den Schwarz-Weiß-Fotos der Familie erscheint sie als das, was Rosel Albrecht auch in Wirklichkeit war – eine eigenständige Persönlichkeit, die mit Charme, Aufrichtigkeit und würdevoller Haltung beeindruckte. Rosel und Hermann Albrecht kannten sich quasi seit ihrer Taufe. Mit nur zwei Tagen Unterschied am 14. und 16. Juni 1914 geboren, sind beide in der selben Feier in Kollnau im Schwarzwald getauft worden. Eine Sandkastenliebe sei die Beziehung ihrer Eltern nicht gewesen, „das entwickelte sich später“, berichten die Kinder. Doch das innige Verhältnis ihrer Eltern sei eine große Stütze für den Vater gewesen. Von Rosel Albrecht stamme der Ratschlag an ihren Mann: „Geh’ bloß nicht in eine Partei, Deine Partei ist die Musik.“ Überhaupt sei Rosel Albrecht die erste Beraterin des Bürgermeisters gewesen, erinnert sich Günter Albrecht. „Und Mutti hat die Familie geschmissen“, sagt Ursula Albrecht. Rosel Albrecht hat sich nach dem Tod ihres Mannes beim Roten Kreuz als Bereitschaftsleiterin in Radolfzell engagiert, dieses Amt bekleidete sie von 1980 bis 1983 im Kreis Konstanz. Zudem war sie lange Jahre Pfarrgemeinderätin in der Münster-Pfarrei. Rosel Albrecht starb 89-jährig in Radolfzell.
- Musik in der Familie: Für den Präsidenten des Bundes deutscher Volksmusikverbände spielte auch privat die Musik eine große Rolle. Er selbst „hat hervorragend Klavier gespielt“ (Günter Albrecht über seinen Vater), Rosel Albrecht musizierte am Harmonium und die Kinder lernten Gitarre, Klavier oder sangen im Kirchenchor. Höhepunkt im Familienleben war neben dem gemeinsamen Musizieren im Musikzimmer das Kartenspielen. „Wir spielten Cego“, erinnert sich Dorothea Nobs. Mit ihrem Vater konnten die Kinder immer rechnen: Wenn er da war, kam der Bürgermeister heim zum Mittagessen und zum Mittgsschlaf. „Aber abends wurde es oft spät“, erinnert sich Dorothea Nobs.
- Letzte Worte: Beim Trauerakt im Rathaus würdigte der Stadtrat und spätere Ehrenbürger Karl Bücheler den verstorbenen Bürgermeister von Radolfzell: „Hermann Albrecht hat sich für die Stadt engagiert und sein früher Tod mag der Tribut für dieses rastlose Leben im Dienst einer großen Aufgabe gewesen sein.“