Radolfzell – Was die Vertreterin der Staatsanwaltschaft zu Beginn der Verhandlung aus den Akten vorlas, war eine illustre Geschichte: Eine Fliegenklatsche kam darin ebenso als Waffe vor wie ein Beil. Außerdem wusste der Verteidiger noch nicht, dass sein Mandant auf die Frage des Richters Georg Dold, ob er sich vor Gericht äußern wolle, erwidern würde: „Kann ich, mach ich, will ich.“ Und das dann bewies, indem er manche Aussagen begann mit den Worten „Mein Anwalt hat mir gesagt, ich solle das nicht so sagen, aber ...“ oder mitten in der Verhandlung aufstand, sein Handy zückte und dem Richter ein Schaubild zeigte, das er mit seinem Psychotherapeuten entworfen hatte.
Offenheit bewies der Angeklagte in jedem Fall. Durch seine Erzählungen und vier Zeugenaussagen ließen sich die Vorfälle genau nachkonstruieren. Der erste fand in einer Bar in Radolfzell statt. Zwei Augenzeugen berichteten, dass sie den betrunkenen Angeklagten nach draußen begleiteten, nachdem ein weiblicher Gast sich ängstlich über ihn beschwert hatte. Jedoch wurde der Betrunkene aggressiv und verletzte beide, so dass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten: Eine Platzwunde an der Stirn und eine Gehirnerschütterung wurden diagnostiziert. Der Angeklagte jedoch hatte nach eigenen Angaben keinerlei Erinnerung an den Vorfall. Erst am nächsten Morgen habe er durch Erzählungen erfahren, was sich zugetragen hatte. Sehr bald darauf entschuldigte er sich bei den Geschädigten mit einem Präsentkorb und erklärte sich bereit, den Betriebsausfall des Opfers mit der Gehirnerschütterung zu entschädigen. Der Verletzte sah dann auch über seine Kopfschmerzen hinweg und sagte vor Gericht aus, der Fall sei damit für ihn erledigt. „Ein bisschen leiden soll er schon“, meinte er, war aber mit monatlichen Zahlungen zufrieden: „Jeder hat eine zweite Chance verdient.“
Wochen später jedoch der nächste Vorfall: Der Angeklagte, seinen Worten zufolge „mächtig gut gelaunt“ und „völlig dicht“, sei vor dem Seerhein-Center in Konstanz auf einen Bekannten getroffen. Dem habe er 20 Euro gegeben, damit dieser für beide Alkohol kaufe. Allerdings machte sich eben dieser mit dem Geld aus dem Staub, woraufhin der Betrogene ausflippte, Passanten und Autos bespuckte, sich Fahrzeugen in den Weg stellte und mit einer Fliegenklatsche herumfuchtelte. Warum er die dabei gehabt habe, wusste der Angeklagte selbst nicht mehr so genau. Eine Polizeibeamtin sagte vor Gericht aus, dass sie und Kollegen versucht hätten, ihn zu beruhigen. Der antwortete mit Fliegenklatschen-Schlägen. Als ihn das nicht weiterbrachte, kamen laut der Beamtin die Fäuste dazu, woraufhin er von vier Polizeibeamten auf den Boden gezwungen wurde. Er habe die Polizisten anschließend beleidigt, so die Zeugin. Der Angeklagte bestritt dies, entgegen dem Rat seines Anwalts, vehement: „Das ist an den Haaren herbeigezogen.“ Jedenfalls wurden ihm am Tatort Handschellen angelegt, was ihm lebhaft in Erinnerung blieb: „Das tat weh.“
Beim dritten Vorfall kam seine Abneigung gegen Handschellen wieder zum Vorschein. Der Beschuldigte hatte sich während eines Drogenrausches die Hand verletzt, lief schnurstracks in die Ambulanz des Konstanzer Krankenhauses und wollte genäht werden. Zunächst wurde er mit der Bitte hinausgeschickt, sich anzumelden, landete aber auf dem Parkplatz. Da ihm das ganze nicht schnell genug ging, pöbelte er herum und hatte diesmal die Fliegenklatsche mit einem Beil ausgetauscht. Als eine Streife aufmarschierte und ihm Handschellen anlegen wollte, knurrte er die Beamten an und wehrte sich.
Alle drei Vorfälle geschahen unter starkem Alkohol- oder Drogeneinfluss. Der Umgang mit Alkohol sei das größte Problem des Angeklagten, so dessen Sozialpädagoge vor Gericht. Auch der Angeklagte schien sich dessen bewusst. Mit 14 Jahren spritzte der Beschuldigte sich Heroin, versank zehn Jahre im Drogensumpf – „das war nicht gut für mich“. Dort aber kämpfte er sich wieder heraus. Gras rauchen sei zu teuer, um es regelmäßig zu machen, meinte er weiter, den Alkoholkonsum wolle er einschränken: „Alkohol macht mein Gehirn ganz kaputt.“ Auch Richter Dold merkte an, dass er in den Gesprächen das Gefühl habe, der Angeklagte sei noch nicht ganz erwachsen. „Ich komme öfter in gesprächsbedürftige Situationen“, gab der Angeklagte zu. Er wolle jedoch seine Ausbildung als Zierpflanzer beenden, später in botanischen Gärten arbeiten und sich in Therapie begeben.
Während die Vertreterin der Staatsanwaltschaft für eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten ohne Bewährung plädierte, da sie aufgrund seiner Vorstrafen weitere Straftaten für wahrscheinlich hielt, war Verteidiger Björn Bilidt der Meinung, dass eine Therapie dem Angeklagten ein Leben ohne Konflikt mit dem Gesetz ermöglichen würde: „Was bringt es der Gesellschaft, wenn wir ihm jetzt seine Ausbildung kaputt machen und ihn wegsperren?“ Richter Dold schien es ähnlich zu sehen: „Wenn Sie nüchtern sind, sind Sie ein ordentlicher junger Mensch“, wandte er sich an den Angeklagten und entschied sich dafür, die Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen. Drei Jahre lang müsse der Angeklagte strengen Bewährungsauflagen Folge leisten und seine Therapie absolvieren.
Dies sei allerdings auch die „allerletzte Chance“, so Dold. Bei Verstößen wäre die Geduld des Gerichts „sehr begrenzt“, warnte er den Angeklagten und fügte hinzu: „Ab heute gilt‘s!“ Der deutlich erleichterte Angeklagte zeigte sich einsichtig und verzichtete auf Rechtsmittel.
Bewährung
Was ist eine Bewährungsstrafe? Es handelt sich dabei um die Aussetzung einer Freiheitsstrafe, was im Strafgesetzbuch (Paragraf 56) im Einzelnen geregelt ist. Dies bedeutet, dass die Strafvollstreckung einer verhängten Freiheitsstrafe ausgesetzt wird und der Verurteilte in Freiheit bleibt. Prinzipiell ist eine Bewährung aber nur möglich, wenn die infrage kommende Freiheitsstrafe nicht über zwei Jahren liegt. Im vorliegenden Fliegenklatschen-Fall darf sich der Verurteilte drei Jahre nichts zuschulden kommen lassen – danach gilt seine Schuld als gesühnt. Die Gewährung einer Bewährung hängt wesentlich von der Sozialprognose für den Angeklagten ab, der Gesetzgeber sieht ferner einen Ermessungsspielraum für den Richter vor. (tol)