Die Außentemperatur liegt knapp unter dem Gefrierpunkt. Zwei Stunden vor Öffnung des Tafelladens in der Markthallenstraße bereiten neun winterfest gekleideten Helfer der Radolfzeller Tafel ein 60 Quadratmeter großes Zelt für den äußerst günstigen Lebensmittel-Verkauf an bedürftige Bürger vor. Die Corona-Pandemie hat den Betrieb des Tafelladens deutlich schwerer gemacht.
Bei Kälte und Hitze
Durch die Hygiene-Vorschriften war die Radolfzeller Tafel gezwungen, vor ihrem kleinen Laden ein festverankertes Zelt aufzubauen, in dem sie seit zwei Jahren den Verkauf für bis zu 60 bedürftige Menschen abwickelt – im Winter bei klirrender Kälte, im Sommer bei brütender Hitze unter den Zeltplanen.
Die Notunterkunft im Verkaufszelt zehrt nach der über 22 Monaten andauernden Pandemie an den Kräften der Helfer im Alter zwischen 58 und 82 Jahre. Die Radolfzeller Tafel sucht im Zentrum dringend eine neue Unterkunft. Eine Anfrage an die städtische Verwaltung blieb bislang erfolglos.
Auch Privatleute spenden
Im Zelt sind mehrere Tische zu einer zehn Meter langen Theke angeordnet. Rüstige Senioren sortieren Molkerei- und Fleischprodukte in ein Kühlregal. Sie verpacken das von der Bäckerei des Wahlwieser Kinderdorfs gespendete Brot oder stellen handliche Gemüse-Portionen aus einer Privatspende in Folientüten zusammen. Eine Stunde vor Marktbeginn liefert der Tafel-Fahrer Martin Böhler mit einem Lastwagen weitere Lebensmittel aus dem Bohlinger Verteilerzentrum für die Tafeln aus dem Landkreis an.

„Heute sieht es mau aus“, urteilt die Vorsitzende des Tafelladens, Hildegard Gallenschütz, nach einem prüfenden Blick in den Laster: „Wir bekommen kein Obst und kein Gemüse.“
Die am Vorabend für die Abholung auf Rampen abgestellte Ware sei bei den Nachttemperaturen von minus zehn Grad erfroren. weiß Hildegard Gallenschütz zu berichten „Und wenn man den Salat auftauen würde, dann ist er kaputt“. Doch eine Privatspende an Obst und Gemüse deckt zumindest an diesem frostigen Tag für einige Kunden den Bedarf an frischen Vitaminen.
Private Spender bringen Lebensmittel
Während der Laster ausgeräumt wird, liefert ein Böhringer Witwer mehrere Kisten mit Reis, Tee, Zucker und Margarine an. Seit einigen Jahren beliefert der 78-jährige Spender einmal im Monat die Tafel mit haltbaren Lebensmitteln. Vier der Helfer zerren derweil die bis zu zwei Zentner schweren und mit Molkereiprodukten gefüllten Rollcontainer über den Kies, um das Verkaufszelt über einen Seiteneingang mit den Waren zu bestücken.

Der Aufwand ist immens: Einige Produkte werden von den Helfern bis zu vier Mal in die Hände genommen, ehe sie ihre Plätze in dem Verkaufszelt finden und gegebenenfalls nach Ladenschluss für die Einlagerung oder für den Rücktransport in das Verteilerzentrum wieder abgeräumt werden.
Wegen Corona nur ein Verkaufstag
Durch die Verordnungen zur Eindämmung der Pandemie bleibt der eigentliche Verkaufsraum des Tafelladens bis auf weiteres geschlossen. Nach der Corona-Verordnung dürfte auf der 15 Quadratmeter großen Ladenfläche nur eine Person einkaufen, erläutert die Co-Vorsitzende, Susanne Hiltner.

In dem rund 60 Quadratmeter großen und durchlüftenden Zelt können sich indes mehrere Kunden gleichzeitig aufhalten, die durch ein Losverfahren Zutritt erhalten. Vor der Corona-Pandemie bot die Tafel für ihre Kundschaft im Winter einen Aufenthaltsraum an. Doch auch dieser bleibt zum Schutz der Kunden geschlossen.
Damit die Versorgung der Bedürftigen mit Lebensmitteln auch während einer potentiellen Erkrankung der Helfer mit Covid-19 aufrechterhalten werden kann, teilte die Tafel ihre Helfer in zwei unabhängig voneinander agierende Gruppen ein. Gleichzeitig reduzierte sie durch den stark erhöhten Arbeitsaufwand ihre beiden Verkaufstage auf den Freitag.
100 Euro für den Lebensunterhalt
Eine halbe Stunde vor Öffnung der Tafel füllt sich langsam der Vorplatz mit den für den Einkauf berechtigten Menschen. Unter ihnen auch eine 75-jährige Seniorin, die monatlich rund 100 Euro für ihren Lebensunterhalt zur Verfügung hat. Nach drei Monaten und einer überstandenen Corona-Infektion ist sie wieder Kundin bei der Tafel.
Die Infektion habe sie über Monate hinweg derart geschwächt, dass sie keine lange Wartezeiten in der Kälte vor der Tafel auf sich nehmen konnte, berichtet die Rentnerin: Zwischenzeitlich sei sie im gewöhnlichen Supermarkt nur durch im Preis stark reduzierte Waren über die Runden gekommen. Sie zeigt sich erleichtert, dass sie die Wartezeit vor der Tafel trotz Kälte wieder auf sich nehmen kann.

Nach Dissonanzen mit der Tafel in Singen fährt ein 50-jähriger Mann seit eineinhalb Jahren mit dem Fahrrad zur Tafel nach Radolfzell. Hier käme er mit den Ehrenamtlichen besser zurecht, bekennt der Mann aus Singen.. Rund 250 Euro bleiben für ihn, für seine im Mini-Job beschäftigte Lebensgefährtin samt der in Ausbildung befindlichen Tochter im Monat für die Versorgung übrig.
Für einen mit Lebensmitteln gefüllten Rucksack bezahle er in der Tafel zwischen zehn und 14 Euro. Im gewöhnlichen Handel müsse er dafür das drei- bis vierfache aufbringen, rechnet der 50-Jährige vor. Er bedauert, dass man aktuell nur ein Mal pro Woche bei der Radolfzeller Tafel einkaufen kann.