Herr Grams, Diakonie bedeutet Dienst an Hilfebedürftigen. Doch wie können Sie aktuell Hilfe leisten, wenn Sie eigentlich Abstand halten müssen?

Wir versuchen uns auf die aktuelle Situation einzustellen und den Kontakt zu den Hilfesuchenden sicherzustellen. Wir sind für alle Klienten über sämtliche elektronische Medien da. Aber wie bieten je nach Anliegen auch Einzeltermine an, wobei wir natürlich sämtliche Hygiene- und Abstandsregeln einhalten. Von uns ist das ein ganz klares Zeichen nach außen, wir sind weiterhin da, auch unter den schwierigen Bedingungen.

Wie laufen die unterschiedlichen Angebote der Diakonie ab?

Alle Gruppenaktivitäten können nicht mehr stattfinden. Dafür versuchen wir Ersatz zu schaffen, um dennoch geeignete Angebote zu haben. In Radolfzell haben wir zum Beispiel unsere Kinderwohnung. Hier sprechen Mitarbeiter gezielt die Familien an, halten Kontakt über das Telefon und E-Mails und versuchen zu unterstützen wo es nur geht. Denn gerade in diesen Familien steigt in diesen Zeiten der Stresspegel enorm und sie brauchen jemand von außen, der interveniert und da ist.

Welche Bevölkerungsgruppen sind Ihrer Meinung nach durch die Krise besonders gefährdet?

Einmal sind es die eben genannten Kinder, die zu uns in die Kinderwohnung kommen. Überall ist von E-Lerning und Homeschooling die Rede, die Kinder sollen daheim am Laptop lernen. Aber die Familien, die wir betreuen, haben zum Teil kein Internet oder es gibt nur einen alten Familiencomputer für alle. Die Kinder können überhaupt nicht die geforderten Aufgaben erledigen. Als Nächstes sind die Schwangeren, die zu uns in die Schwangeren- und Schwangerschaftskonfliktberatung kommen, besonders betroffen. Diese sind sehr verunsichert, wie es weitergeht. Wenn sie oder der Partner in Kurzarbeit sind und finanzielle Sorgen haben. Wir versuchen telefonisch Hilfestellung zu geben und bei Anträgen zu helfen. Überhaupt sind viele schnell von der Bürokratie überfordert. Auch wenn es in den Medien heißt, die Anträge seien einfach zu stellen. In der Schuldnerberatung stellen sich die Mitarbeiter darauf ein, dass es in den kommenden Monaten viel mehr Anfragen geben wird. Dann, wenn die finanziellen Reserven aufgebraucht sind.

In den Medien wird vor allem die Sorge um zunehmender häuslicher Gewalt geäußert. Was können Sie aus dem Arbeitsalltag in den Frauenhäusern berichten?

Wir haben im Frauen- und Kinderschutzhaus in Radolfzell zehn Plätze und die sind belegt. Die Mitarbeiter des Frauenhauses wissen, dass Frauen ihre Flucht sehr sorgfältig planen müssen. Nämlich dann, wenn der Partner nicht zu Hause ist. Aktuell sind aber viele Familien aufgrund der schwierigen Gesamtsituation zusammen daheim und alles ist sehr beengt. Aus diesem Grund rechnen die Fachkräfte auch hier damit, dass die Anfragen zeitverzögert zunehmen werden. Grundsätzlich gibt es aber viel zu wenig Plätze. Im Landkreis haben wir die glückliche Situation, dass es drei Frauenhäuser gibt. Aber es gibt viele Landkreise, die haben gar keine Schutzhäuser. Frauen müssen viel weitere Wege in Kauf nehmen. Die Gelder reichen lange nicht aus, um den Bedarf zu decken.

Haben Sie neue Angebote geschaffen, um Menschen aktuell besser erreichen zu können?

Wir versuchen wie alle anderen die neuen Medien zu nutzen und diese dort einzubauen, wo es sinnvoll ist. Zum Beispiel können wir eine Eheberatung per Videokonferenz anbieten, wenn das gewünscht wird. Wir betreuen auch psychisch kranke Menschen. Da bieten wir therapeutische Spaziergänge mit entsprechendem Sicherheitsabstand an. Grundsätzlich sind wir mehr mit diesen Klienten in Kontakt, rufen öfter an und fragen, ob alles in Ordnung ist. Wir versuchen eine Kombination aus allen uns zur Verfügung stehenden Medien anzubieten. Es gibt auch einen Corona-Hilfsfond der Diakonie. Geld ist ganz schnell mal aus, dazu reichen oft schon Kleinigkeiten und das Geld ist aufgebraucht. Wir haben Klienten, die zum Beispiel in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet haben und dort auch zu Mittag gegessen haben. Oder Kinder, die in der Kita oder Schule gegessen haben und nun den ganzen Tag daheim sind. Diese Mahlzeiten fallen aus. Das kann finanziell bereits belastend werden. Für all die Notfälle, in denen es um unkomplizierte finanzielle Hilfe geht, haben wir diesen Hilfsfond. Wer Fragen dazu hat oder Hilfe benötigt, kann uns ansprechen.

Das ist auch eine große Herausforderung für die Mitarbeiter, jeden einzeln anzusprechen und an jeden zu denken.

Das auf jeden Fall. Bisher klappt auch alles. Es zeigt auch die Qualität der Bindung und der Beratung der Mitarbeiter. Aber gerade Menschen mit psychischen Erkrankungen tendieren dazu, sich zurückzuziehen und zu isolieren. Dabei wollen wir sie gerade ermutigen, Dinge anzugehen und ihre Sachen zu regeln. Das ist für unsere Mitarbeiter eine besonders große Herausforderung. Es kam zum Beispiel auch heraus, dass viele ganz schlecht informiert sind und die klassischen Medien nicht konsumieren. Die brauchen dann noch einmal jemanden, der sie über die aktuelle Lage und die Verordnungen aufklärt. Das ist schon ein enormer Mehraufwand. Wir haben mit so vielen unterschiedlichen Menschen zu tun, die sehr unterschiedlich reagieren. Wir haben Menschen, die sehr panisch reagieren und Angst haben, sich sofort anzustecken. Andere nehmen es zu sehr auf die leichte Schulter. Mit beiden müssen wir ins Gespräch kommen und einen Plan ausarbeiten, wie man damit am besten umgeht.

Wie beurteilen Sie die Stimmung in der Gesellschaft? Man hat das Gefühl es schwankt zwischen großer Hilfsbereitschaft und grenzenlosem Egoismus.

Was wir bisher erlebt haben, ist durchweg großes Verständnis. Alle die sich bei uns engagieren, auch die Ehrenamtlichen, versuchen sich einzubringen und bieten uns Hilfe an. Es haben sich welche zusammengetan und Behelfsmasken für Mund und Nase genäht. Ein anderes schönes Beispiel ist, dass ein Landwirt uns seine Äpfel geschenkt hat, damit wir sie an Hilfesuchende verteilen.

Was glauben Sie können wir alle aus dieser Krise lernen?

Wir sind eine Gemeinschaft, in der jeder für den anderen da ist und Verantwortung übernimmt. Diese Entwicklung von Gemeinschaftssinn wird durch die Krise gerade beschleunigt. Das ist das Paradoxe, das gerade passiert. Wir müssen auf der einen Seite Abstand halten, gleichzeitig gibt es aber so viele Menschen, die gerade jetzt unsere Hilfe brauchen. Aber das gelingt eigentlich ganz gut, beides doch zu vereinen. Auch wird der Prozess der Digitalisierung und der technischen Kontaktaufnahme sehr schnell vorangetrieben. Wer hätte denn vor wenigen Wochen gedacht, wie oft wir Videokonferenzen machen werden? Das könnte langfristig dazu führen, dass vielleicht in Zukunft alles etwas einfacher läuft.

Das könnte Sie auch interessieren