Entwicklungen können sich überschlagen, auch wenn Ereignisse fast 90 Jahre in der Vergangenheit liegen. Kurz vor der Gemeinderatssitzung am Dienstag, 24. Juni, ab 16.30 Uhr, sind bisher nicht ausgewertete Dokumente aus der NS-Zeit rund um die Tätigkeit von Ehrenbürger August Kratt aufgetaucht. Der freie Historiker Markus Wolter hatte diese im Zuge einer Recherche über die Zwangssterilisation der Radolfzellerin Anna Fezer im Jahr 1938 entdeckt. Kratt hatte hier eine Anfrage weitergeleitet, welches in der Gesamtfolge die Konsequenz der Zwangssterilisation von Fezer hatte.
Gutachten dient als Grundlage zur Entscheidung
Nun hat auch die von der Stadt Radolfzell beauftragte Historikerin Carmen Scheide von der Universität Bern die Dokumente aus dem Freiburger Staatsarchiv gesichtet. Sie hat ihrem Gutachten zu August Kratt eine Ergänzung beigefügt, die den Stadträtinnen und Stadträten in der Sitzung als Grundlage dienen soll, darüber zu entscheiden, ob Kratt die Ehrenbürgerwürde der Stadt behalten kann oder nicht.
Eine Empfehlung, wie zu entscheiden wäre, ist dieser Ergänzung nicht beigefügt. Der Arbeitskreis Erinnerungskultur und die Stadtverwaltung haben auf Basis des ersten Gutachtens die Empfehlung ausgesprochen, das Verfahren zur Aberkennung der Ehrenbürgerwürde nicht einzuleiten. Ein Antrag der FGL-Fraktion fordert die symbolische Aberkennung.

Was steht in den neuen Dokumenten?
Bei dem neuen Dokument handelt es sich um ein Schreiben von August Kratt, welches er in seiner Funktion als Bürgermeister-Stellvertreter verfasst hatte. Um den Kontext zu verstehen, hat die promovierte und habilitierte Historikerin Scheide auch den Werdegang der Zwangssterilisation von Anna Fezer rekonstruiert. Diese erfolgte auf Initiative des damaligen Radolfzeller Bürgermeisters Josef Jöhle. Das von Kratt 1938 bearbeitete Schreiben stammte vom Erbgesundheitsgericht in Konstanz.
Die darin enthalte Anfrage: „Die am 17.7.1897 in Radolfzell geborene und daselbst wohnhafte Anna Fetzer soll u.a. bei der Stadtverwaltung Radolfzell als Putzfrau angestellt gewesen sein. Wir ersuchen um vertrauliche Mitteilung, wie lange die Fetzer dort beschäftigt war, wie sie ihre Arbeiten erledigt hat und insbesondere, ob sie dieselben selbstständig und ohne Anleitung erledigte, und ob sie dort etwa wegen geistiger Beschränktheit oder gar Schwachsinn aufgefallen ist.“

Dieses Schreiben leitet August Kratt wenige Tage nach Erhalt mit der kurzen Bemerkung: „Gegen Rückgabe an das Stadtbauamt mit der Bitte um Äußerung“, an die zuständige Stelle des Stadtbauamtes weiter. Kratt unterzeichnete es in seiner Funktion als erster Beigeordneter. Die Antwort vom Stadtbauamt, mit der Information, dass Fezer nicht in der Lage gewesen sein soll, ihre Arbeit selbstständig auszuführen und den Eindruck einer „etwas beschränkten Person“ mache, wurde wiederum von Jöhle an das Amtsgericht weitergeleitet. Anna Fezer wurde kurze Zeit später zwangssterilisiert.
Vor der Gemeinderatssitzung hat sich ab 15.45 Uhr eine Demonstration angekündigt, die sich dafür ausspricht, August Kratt die Ehrenbürgerwürde zu entziehen. Eine entsprechende Petition haben rund 350 Menschen unterzeichnet.