So weltoffen und bunt sich Radolfzell in heutiger Zeit Einheimischen und Gästen präsentiert, so schwer tut sich die Stadt mit der Aufarbeitung der Vergangenheit. Keinem fällt es leicht, in die besonders dunklen Kapitel der eigenen Geschichte zu blicken und diese anzunehmen und aufzuarbeiten. Lange hatte man im Gemeinderat zum Beispiel auch über das Kriegerdenkmal am Luisenplatz diskutiert. Weiße Rosen sollen den beiden Wehrmachtssoldaten ihren Schrecken nehmen.
Lettow-Vorbeck gilt seit vielen Jahren als Kriegsverbrecher
Aktuell könnte eine neue Diskussion um Verantwortung ins Haus stehen. Als eine von acht Städten in Deutschland hat Radolfzell noch eine Lettow-Vorbeck-Straße im Verzeichnis stehen. Paul von Lettow-Vorbeck gilt bereits seit vielen Jahrzehnten als historisch belegter Kriegsverbrecher.
Eine angestrebte Umbenennung der Straße wurde im Jahr 2013 mit Stimmengleichheit – die Abstimmung ging elf zu elf aus – abgelehnt. Doch die jüngste politische Entwicklung könnte der Debatte neuen Aufwind geben: Im Mai dieses Jahres erkannte die Bundesregierung den Völkermord an den Herero und Nama als Kriegsverbrechen an. Lettow-Vorbeck war an diesen kriegerischen Handlungen maßgeblich beteiligt.
Schon in den vergangenen Jahrzehnten wurde die Geschichte des einstigen Kriegshelden Lettow-Vorbeck kritisch beleuchtet. Während seines Einsatzes in Afrika im Ersten Weltkrieg soll er eigenmächtig gehandelt haben und bewusst ungenehmigte Kriegshandlungen vorangetrieben haben. Einer seiner Biografen, Eckard Michels, resümiert, dass die „ostafrikanische humanitäre Katastrophe der Jahre 1914 bis 1918“ zu einem erheblichen Teil der Verantwortung Lettow-Vorbecks anzulasten sei. Der Stamm der Askari, die zum Teil zusammen mit den deutschen Truppen kämpften, gaben ihm laut Michels den Beinamen „Der Herr, der unser Leichentuch schneidert“.
Zum Kriegshelden stilisierten letztlich die Nationalsozialisten Paul von Lettow-Vorbeck, der die Rolle gerne anzunehmen schien. Denn gegen eine demokratische Regierung nach Kriegsende versuchte er sich mit anderen Militäroffizieren 1920 beim sogenannten Kapp-Putsch zur Wehr zu setzen. Von den Nationalsozialisten erhielt er für seine Taten in Afrika positive Aufmerksamkeit. Zahlreiche Straßen und Plätze in ganze Deutschland wurden während des NS-Regimes zu seinen Ehren umbenannt, so auch in Radolfzell.
Gutachten äußert deutliche Kritik
Die Historikerin Heike Kempe hatte 2013 auf Beschluss des Radolfzeller Gemeinderates ein Gutachten angefertigt, ob Lettow-Vorbeck als Namensgeber einer Straße geeignet sei. Sie kam zu einem eindeutigen Urteil: „Seine Biographen wie auch Gutachter kommen einstimmig überein, dass Lettow-Vorbeck weder als Namensgeber für Kasernen noch für Straßen in heutiger Zeit geeignet ist“, schrieb sie in dem Gutachten von 2013.
Und auch ein anderer Gutachter, Helmut Blay, auf den sich Kempe bezieht, zieht das Fazit: „Insgesamt ist festzustellen, dass Lettow-Vorbeck persönlich an Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen in Afrika und Deutschland, wahrscheinlich auch in China beteiligt war.“
Die Straße hätte nie so benannt werden dürfen
Heike Kempe beleuchtet auch, wie es überhaupt zur Namensgebung 1939 kam. Denn eigentlich war es im Radolfzell der 1930er Jahre nicht gestattet, Namen nach noch lebenden Personen zu vergeben. Doch ein Einwand des damaligen Landrates wurde von Seiten der NSDAP nach der Benennung der Lettow-Vorbeck-Straße mit der Begründung abgelehnt, man habe es dem Kriegshelden aus dem Ersten Weltkrieg bereits versprochen.
Nach Kriegsende gingen die Besatzungsmächte unterschiedlich mit den Überresten der Nationalsozialisten um, erklärt Heike Kempe in dem Gutachten. Die Briten und Amerikaner forderten eine rigorose Umbenennung aller militärischer und ideologischer Straßennamen, die französischen Besatzer sahen das nicht so eng. Die Lettow-Vorbeck-Straße blieb.
Die Diskussion 2013 wurde im Radolfzeller Gemeinderat durchaus differenziert geführt. Im Vorfeld wurden die Anwohner gehört, ob eine Umbenennung erwünscht sei. Etwas mehr als die Hälfte der Bewohner der Lettow-Vorbeck-Straße sprachen sich gegen diesen Vorgang aus.
Anwohner sehen den Namen zum Teil nicht als Problem
Die Argumente dagegen reichten von „Straßennamenslöschung bedeutet Vergessen“ über „einseitige Betrachtungsweise und Vernachlässigung des historischen Kontextes“ bis hin zu „dem Gefühl eines erzwungenen Umzuges“, wenn sich der gewohnte Straßenname ändern würde. Auch die Kosten und der bürokratische Aufwand wurden als übertrieben angesehen. Als Kompromiss wurde ein Hinweisschild über die Person und das Leben von Paul von Lettow-Vorbeck angebracht.
Interfraktioneller Antrag ist geplant
„Die Sache wird wiederkommen“, kündigt Siegfried Lehmann, Fraktionssprecher der Freien Grünen Liste, auf Nachfrage des SÜDKURIER an. Er plane einen interfraktionellen Antrag, der die Umbenennung der Lettow-Vorbeck-Straße wieder auf die Tagesordnung setzen soll. „Die Lage in der Bundesrepublik ist eine andere, der Blick auf die Geschichte hat sich verändert“, ist sich Lehmann sicher. Vor allem die Anerkennung des Völkermordes als Kriegsverbrechen durch die Bundesregierung ändere die ganze Situation grundlegend.

Dieser Argumentation schließt sich auch Norbert Lumbe, Fraktionssprecher der SPD, an. „Es ist eine große, große Peinlichkeit, dass es diese Straße so noch gibt“, sagt Lumbe. Im zweiten Anlauf wolle er zwar auch die Argumente der Anwohner anhören, aber man müsse versuchen, sie von einer Namensänderung zu überzeugen. „Wir hoffen auf die Einsicht der Bürger, denn der Name muss geändert werden“, so Lumbe. Der Straßenname sei für Radolfzell eine Schande.
Jürgen Keck, Fraktionssprecher der FDP, würde diesen interfraktionellen Antrag mit unterstützen. Solange die Anwohner keinerlei Kosten durch die Namensänderung hätten. „Das muss die Stadt dann übernehmen“, so Keck. Schon 2013 hatte die Stadtverwaltung einen finanziellen Ausgleich für die Unannehmlichkeiten der Namensänderung fest eingeplant. Vorgesehen waren 50 Euro pro Person im Haushalt. Die Umbenennung sollte damals schon nicht auf Kosten der Anwohner geschehen, da war man sich 2013 einig.

Offen für eine Diskussion ist auch Bernhard Diehl, Fraktionssprecher der CDU, auch wenn er nicht unbedingt eine Namensänderung befürwortet. „Nachfolgende Generationen müssen auch wissen, wer Lettow-Vorbeck war“, sagt Diehl. Die Ergänzungstafel sei aus diesem Grund die beste Lösung auf die Geschichte hinzuweisen und aufzuklären. Man könne die Geschichte nicht einfach ausradieren, so Diehl. Historische Aufarbeitung benötige Zeit, die Bundesrepublik habe auch über 70 Jahre gebraucht.
Mit gemischten Gefühlen betrachtet Dietmar Baumgartner, Fraktionssprecher der Freien Wähler, die erneute Diskussion. Auf der einen Seite stünde der riesige Verwaltungsakt, auf der anderen Seite mache die Neubewertung der Bundesregierung das Thema wieder diskussionswürdig. Baumgartner könne die Argumente auf beiden Seiten verstehen. „Das ist keine einfache Sache“, so der Stadtrat.
Im Jahr 2010 benannte Saarlouis, die Geburtsstadt des einstigen Kriegshelden, die dortige Von-Lettow-Vorbeck-Straße um. Der Beschluss im Stadtrat erfolgte nach langer öffentlicher Debatte einstimmig.