Dieser Name ist für viele Menschen bundesweit vor allem mit den jährlichen Verhandlungen des Hohen Grobgünstigen Narrengerichts verbunden. Immer am Schmotzigen Dunschtig bringen die Stockacher Narren einen prominenten Politiker auf offener Fasnachtsbühne ins Schwitzen – und verhängen eine Weinstrafe, die den Keller füllt. Auch wenn das Hohe Grobgünstige Narrengericht zu Stocken in diesem Jahr immerhin die 667. Fasnacht nach dem Erznarren Hans Kuony begangen hat, gab es die Tradition der Verhandlungen, wie man sie heute kennt, nicht einfach schon immer. Sie begannen im Jahr 1960.

Damals stand Kurt-Georg Kiesinger, damals Ministerpräsident von Baden-Württemberg und später Bundeskanzler der ersten großen Koalition aus CDU, CSU und SPD, als erster prominenter Politiker vor dem Stockacher Narrengericht – und zwar in Singen. Thomas Warndorf, Archivar des Narrengerichts und Historiker, kennt die Hintergründe. Einen durchgängigen Brauch, dass das Narrengericht auch wirklich Verhandlungen abgehalten hat, habe es nämlich nicht gegeben. Nach 1900 sei die Stockacher Fasnacht vor allem für ihre Umzüge bekannt gewesen. Und das Herzstück sei das Narrenbaumsetzen gewesen. "Das war nach dem Zweiten Weltkrieg eigentlich das Alleinstellungsmerkmal der Stockacher Fasnacht", so Warndorf.

Doch der Narrenbaum sei dann nicht mehr lange den Stockacher Narren vorbehalten gewesen. Massenhaft hätten sich neue Zünfte gegründet, die alle einen Narrenbaum gesetzt hätten. Für die Stockacher Fasnacht musste also etwas Einzigartiges her, "eine optisch sichtbare Brauchtumshandlung", wie es Warndorf formuliert. Die Gelegenheit dafür bot ein großes Narrentreffen der Vereinigung Schwäbisch-Alemannischer Narrenzünfte (VSAN) im Februar 1960 in Singen. Im Herbst davor, so geht aus den Akten im Archiv hervor, wurde beschlossen, dass die Stockacher als ihren Beitrag dazu eine "humorvolle Gerichtssitzung" abhalten dürften. Da der damalige Ministerpräsident Kiesinger Ehrengast der Veranstaltung war, war rasch ausgemacht, wer der Beklagte werden sollte.

Empfang von Kurt-Georg Kiesinger am Schmotzigen Dunschtig, 25. Februar 1965, vor dem Rathaus in der Hauptstraße (v.l.): Gerichtsnarr ...
Empfang von Kurt-Georg Kiesinger am Schmotzigen Dunschtig, 25. Februar 1965, vor dem Rathaus in der Hauptstraße (v.l.): Gerichtsnarr Heinrich Schappeler, der Beklagte Kurt-Georg Kiesinger, ein Laufnarr, die Gerichtsnarren Willi Kempter, Willi Lippert, Hans Letzelter als Büttel, Walter Hepp und der damalige Narrenrichter Otto Anemüller. | Bild: Archiv Narrengericht / Thomas Warndorf

Walter "Wädi" Schneider hat dann den Text dazu geschrieben – und zwar den gesamten Text, zu dem laut Warndorf kleine Rollen für alle Gerichtsnarren gehörten. Die Überlegung, die Veranstaltung mit Kiesinger in Stockach zu wiederholen, sei dann aber erst im Juli 1960 aufgekommen. Nur einer kam 1961 nicht, wie Warndorf erzählt: Kurt-Georg Kiesinger. Der war erst 1965 als Beklagter des Narrengerichts in Stockach zu Gast. 1967 kam dann sein Nachfolger als baden-württembergischer Ministerpräsident, Hans Filbinger, vor das Narrengericht.

Einer, der das heutige Bild der Verhandlungen stark geprägt hat, ist Heinrich Wagner. Anders als heute habe er beide Texte, den des Klägers und den des Fürsprechs, selbst geschrieben, wobei Wagner selbst die Rolle des Fürsprechs spielte. Kläger in der Anfangszeit war Alfred Eble. Um die Texte zu schreiben, habe er sich regelmäßig vor den Verhandlungen eine Woche Urlaub genommen und sei in ein Hotel irgendwo im Schwarzwald gefahren, erinnert sich Wagner heute. Damals leitete er noch ein eigenes Bauunternehmen, das seinerzeit etwa 100 Mitarbeiter gehabt habe. Doch für die Geschäfte sei er in der Schreibphase nicht greifbar gewesen. "Auch meine Frau kannte nur den Ort, nicht den Namen des Hotels, in dem ich war", erzählt Wagner heute.

Wagner behielt das Amt des Fürsprechs bis 1998, als er mit Kurt Biedenkopf, damals Ministerpräsident in Sachsen, seinem letzten Beklagten zur Seite stand. Allerdings nicht ohne 1997 mit Annette Schavan die erste Frau vor das Narrengericht zu zitieren – "kraft meiner Willkür", wie er sich heute zurückerinnert. Damals sei das für die Gerichtsnarren noch eine schreckliche Sache gewesen, so Wagner. Die Parteizugehörigkeit der Beklagten sei ihm übrigens eigentlich egal gewesen, sagt Wagner, auch wenn die Beklagten größtenteils aus der CDU kamen. Dahin hatte er, seit über 60 Jahren Parteimitglied, die besten Beziehungen. Und die CDU stellte auch meist die Abgeordneten aus Stockach, die das Ihre zu den Einladungen getan hätten.

Und wer war der beste Beklagte? Als einen der besten erinnert sich Wagner an Franz Josef Strauß, der 1979 nach Stockach kam und als bayerischer Ministerpräsident niemanden in der Republik kalt ließ. "Das war der große Knaller", so Wagner heute. Einen sehr großen Saal habe man organisiert, nämlich eine Halle des Rüstungsunternehmens Contraves, das das Gebäude damals neu errichtet hatte. 3000 Menschen seien darin gewesen, etwa 2000 hätten davor gewartet, als Strauß beim Narrengericht war, erzählt Wagner. Was die Publikumsresonanz angeht, dürfte diese Verhandlung zwar ein einzigartiger Anlass gewesen sein. Prominente Politiker bringen die Stockacher Gerichtsnarren allerdings nach wie vor jedes Jahr ins Schwitzen – und verhängen ihre Weinstrafe.