Es sind zwei Linien, die Angelika Winter in die Luft zeichnet. Die eine symbolisiert die Vor-Corona-Zeit, als die Schulsozialarbeiterin mit Klassen regelmäßig Sozialtrainings machte. Zur Stärkung der Klassengemeinschaft oder gegen Mobbing. Die andere spiegelt die Jetzt-Zeit wider. Die Linie ist kürzer, aber dicker, sagt Winter. Denn: „Seit Corona sind unsere Fallzahlen an Schülern, die akut Hilfe brauchen, gestiegen. Da bleibt keine Zeit mehr für anderes.“

Keine Sozialtrainings. Keine Projekte, die Spannungen im Klassenverband vorbeugen sollen. Dafür vermehrt Einzelgespräche. Das sagt nicht nur Winter. Das sagen auch die anderen beiden Schulsozialarbeiter in Stockach, Petra Brinkmann und Susanne Fricke. „Um die akuten Fälle müssen wir uns vorrangig kümmern“, betont Brinkmann. Und es klingt, wie eine Selbstverständlichkeit aus dem Munde eine Schulsozialarbeiterin.

Versagens- und Verlustängste

Nur: Ist das gar nicht so einfach, wenn kaum Zeit für die Präventionsarbeit oder für Anti-Mobbing Trainings bleibt, sagt Winter. Und wenn die Schüler von Ängsten geplagt sind. „Da sind Verlustängste. Viele Schüler spüren durch Corona, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Sie haben erlebt, wie Verwandte krank geworden sind. Oder sie haben Versagensängste, also die Sorge, die Schule nicht zu packen“, sagt sie. All das schwappe in den Unterricht über.

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Und gerade der sei für manche Kinder mittlerweile eine echte Belastungsprobe. „Einige sind es einfach nicht mehr gewöhnt, in einer Klasse mit anderen zu sitzen. Da ist es laut und unruhig. Ganz anders als im Home Schooling.“

Depressionen und Sucht

Weil seit eineinhalb Jahren so vieles aus dem Gleichgewicht geraten ist, würden immer mehr Jugendliche in Depressionen rutschen, sich selbst verletzten, hätten Suizidgedanken – oder seien süchtig. „Was momentan häufig bei uns auftaucht, sind Spielsucht und Depressionen“, sagt Brinkmann. Während sie spricht, dreht sie ihren Kopf zur Seite. Es ist Mittagszeit, draußen auf dem Pausenhof beim Schulverbund Nellenburg spielen gut zwei Dutzend Schüler.

Brinkmann sieht sie aus dem Fenster und scheint ein Auge auf sie zu haben. Als wolle sie die Schüler auch da noch da auffangen, beschützten, ihnen Halt geben.

Jugendliche leiden psychisch an den Folgen der Corona-Pandemie. Symbolbild:
Jugendliche leiden psychisch an den Folgen der Corona-Pandemie. Symbolbild: | Bild: Fabian Sommer

Wie ihre Kollegen ist Brinkmann Montag bis Donnerstag für je fünf Stunden in der Schule. Sie und Margerit Haas am Schulverbund Nellenburg, Angelika Winter am Nellenburg Gymnasium und Susanne Fricke an den Grundschulen.

Doch: Auch auf dem Heimweg würden sie oft noch von Jugendlichen abgefangen, die jemanden zum Reden brauchen. Die Hilfe suchen. Und wenn sie die Eltern mit ins Boot holen und Kontakt zu Therapeuten suchen, dann seien sie oft bis spät abends in der Schule, sagt Winter.

Sie schaut aus dem Fenster zu den spielenden Jugendlichen, legt ihren Kopf in den Nacken, als wolle sie entspannen – und nicht verzweifeln. „Selbst wenn wir die Pandemie im Griff haben, sind wir schulisch noch lange nicht durch“, sagt sie. „Da kommt verzögert ganz viel“, dass die Kinder verarbeiten und sie als Schulsozialarbeiterin auffangen müsse.

Der Weg in die Sozialarbeit

Alle drei seien durch Fortbildungen vor ein paar Jahren zur Sozialarbeit gekommen. Alle drei haben schon immer mit Kindern gearbeitet. Brinkmann als Erzieherin, Winter beim Jugendamt und Fricke als Leiterin des Schülerhorts. Und alle drei wollten mehr. Wollten die Kinder länger begleiten. Helfen, wo sie ganz dringend gebraucht werden.

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In ihren Stunden an der Schule begegnen sie dem Leben in dunklen Nuancen. Da geht es um Einsamkeit und Erschöpfung, um Corona-Müdigkeit und Leistungsdruck. „Man hört von Eltern, die ihren Kindern Druck machen, die lieblos mit ihnen umgehen oder sie schlagen“, sagt Brinkmann. „Und hört von Jugendlichen, die mit anderen nicht klarkommen, die traurig und überfordert sind.“

Erst mal Vertrauen aufbauen

Das Schwierige: „Bei vielen Fällen können wir auf die Schnelle nicht helfen.“ Da müssten erst Lehrer, Eltern, manchmal auch die Schulleitung, Klinken und Therapeuten mit ins Boot geholt werden. Überhaupt die Eltern: Weil die Schüler meist nicht volljährig sind, gehe ohne sie recht wenig. Doch: „Gerade Kinder, die große Probleme haben, wollen ihre Eltern oft nicht einschalten“, weiß Brinkmann. „Und gegen den Willen der Jugendlichen agieren wir nur, wenn Gefahr droht.“ Ihre Aufgabe darum: Erst mal Vertrauen aufbauen.

Ganz niederschwellig will sie Lust auf Veränderung wecken. „Soziale Arbeit bedeutet immer, in Kontakt zu sein, viel zu reden, Nähe aufzubauen. Und dann zu handeln“, sagt Winter. Während der Lockdowns sei sie deshalb mit den Schülern spazieren gegangen.

Jugendliche leiden psychisch an den Folgen der Corona-Pandemie. Symbolbild:
Jugendliche leiden psychisch an den Folgen der Corona-Pandemie. Symbolbild: | Bild: Fabian Sommer

Denn: „Sozialarbeit geht nur persönlich. Das hätten wir nicht digital machen können.“ Obwohl es digitale Möglichkeiten gab, obwohl sich die Jugendlichen über Online-Plattformen bei ihr melden konnten. Aber für die wirklichen wichtigen Gespräche sei Winter spazieren gegangen. Um herauszuhören, was das Kind, das sich an sie gewandt hatte, gerade braucht.

Doch: „Jeder Fall ist anders“, sagt Brinkmann. „Bei manchen musst du tief durchatmen, weil sie dir so nahe gehen. Bei anderen wolltest du helfen, bist missverstanden worden und wirst zum Blitzableiter, weil die Stimmung kippt.“

Wie sie mit den Geschichten der Jugendlichen umgeht?

Mit denen, die ihr besonders nahe gehen? Anfangs, als sie frisch in der Schulsozialarbeit war, hätten sie die Gespräche manchmal mitgenommen. Heute meditiere sie viel, um auf andere Gedanken zu kommen, sagt Brinkmann. Und sie tausche sich mit ihren Kolleginnen aus. „Das hilft!“ Denn: Sie wüssten, wie herausfordernd der Job ist. Und er reizt sie gerade deswegen. Winter sagt es sogar so: „Ich mag die Herausforderung auch.“

Von kleinen Erfolgen

Der Erfolg von Schulsozialarbeit lässt sich nur begrenzt bemessen. Immerhin sei es nie die Sozialarbeit allein, die einen Effekt aufs Klassenklima, auf Noten und Seelenzustände der Schüler hat, sagt Winter. Und doch: „Es gibt Geschichten, da bekommst du eine Gänsehaut.“

Drei Jahre lang habe sie eine Schülerin begleitet, die mit Mobbing und Schulangst zu kämpfen hatte, die mit ihrer Unterstützung schließlich die Schule wechselte. „Das war hart. Weil ich nach dem Schulwechsel nichts mehr von ihr hörte. Nicht wusste, ob sie es packt.“

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Doch: Dann ein Brief. „Sie hat das Fachabitur mit einer 1,7 abgeschlossen, stand kurz vor ihrer Abiturfeier, durfte aber nur drei Leute einladen – und sie wollte mich dabeihaben“, erzählt Winter. „Das hat mich unheimlich berührt.“ Weil sie gespürt habe, dass die Schülerin ihren Weg gefunden habe, dass sie sich in der Welt da draußen zurechtfindet.