So wie der Schnee die Landschaft einhüllt, tritt eine Demenz ins Leben eines Menschen. Die Landschaft wird immer weißer. Lebenserinnerungen werden zugedeckt.

Zuerst das, was oben auf den Bergen liegt, die Erinnerungen an die jüngste Zeit. Im Tal liegt zunächst noch kein Schnee. Dies ist der Grund, warum ein 93-jährige Heimbewohner in Singen sagt, er sei gerade von der Front heimgekehrt und fragt, ob es hier wohl etwas zu essen gebe?

Dass er gerade eine Pandemie miterlebt und sich isoliert im Zimmer eines Pflegeheimes befindet, ist ihm nicht klar. Die Berge des Jetzt sind schneebedeckt, im Tal der Vergangenheit ist er noch nicht angekommen.

Wie heißt mein Sohn nochmal?

Auch der Ablauf einer Demenz erinnert an das Schneetreiben. Zunächst ist die Landschaft nur leicht bezuckert, dann bilden sich dickere Schichten. Zuletzt erkennt man überhaupt nicht mehr, was sich unter der großen Schneemasse befindet.

Bei einer beginnenden Demenz ziehen sich Betroffene oft zurück. Sie sind unsicher. Weil sie es vielleicht nicht einordnen können, wenn sie plötzlich die Bushaltestelle verpassen, an der sie zuvor 30 Jahre lang ausgestiegen sind. Oder wenn ihnen der Name des Sohnes entfällt.

Später vergessen sie immer mehr, verwechseln Worte. Floskeln und Redewendungen geben ihnen Sicherheit. Anstatt Dinge einordnen zu können und Fragen zu stellen, werden Zusammenhänge mit einem Satz zur Seite gewischt: „Jaja, jeder ist seines Glückes Schmied.“

Knallige Farben können helfen

Hier kann es eine Hilfe sein, Betroffenen Sicherheit mit Worten zu geben – aber auch mit der entsprechenden Einrichtung des Raumes. Viele Pflegeheime dekorieren mit Gegenständen aus der jungen Erwachsenenzeit ihrer Bewohner.

Die Einrichtung des Servicehauses Sonnenhalde in Singen wurde so gestaltet, wie man in den 60er und 70er Jahren gelebt hatte, erläutert Heimleiterin Heidrun Gonser: „Wir haben Teppiche und Tapeten mit großen Mustern und knalligen Farben.“

Die Tengener Variante derselben Pflegeheim-Kette wurde im Landhausstil hergerichtet: „In unserem Haus haben wir Gardinen mit Hirsch-Motiven und gedeckten Farben“, so Heimleiterin Lisa Meißner.

Das kleine Räuberlein ist 63

Im Laufe einer Demenz verschwimmen zunehmend die Zeiten. Die betagte Heimbewohnerin sagt zu ihrem 63-jährigen Sohn: „Mein kleines Räuberlein.“ Die Landschaft schneit immer weiter zu.

In späteren Phasen einer Demenz werden Betroffene zunehmend abhängig. Sie brauchen Hilfe bei täglichen Verrichtungen. Sie können harn- und stuhlinkontinent werden, äußern sich mit immer weniger Worten. Und diese Worte können sogar ganz wegbleiben oder auf einzelne Laute reduziert sein.

Es gibt verschiedene Arten von Schnee: Pulverschnee, Pappschnee und Nassschnee. Auch der Begriff Demenz ist ein Überbegriff. Darunter verbergen sich ebenfalls verschiedene Formen, Alzheimer ist die häufigste. Dann gibt es Demenzen, die aufgrund von Erkrankungen der Blutgefäße entstehen. Und zuletzt solche, denen eine andere Krankheit zugrunde liegt.

Die Ursachen erforschen

Professor Andreas Kruse, Leiter des Instituts für Gerontologie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, betonte bei einem Demenz-Kongress, den das Aktionsbündnis Demenz in Singen organisiert hatte: „Wenn jemand über jemand anderen sagt, er sei dement, lassen Sie das nicht stehen. Fragen Sie, wer diese Diagnose mit welchen Methoden gestellt hat.“

Ein Grund für diese Forderung: Demenz ist ein Überbegriff und lässt sich genauer bestimmen. Handelt es sich beispielsweise um eine Demenz, die durch eine Erkrankung der Blutgefäße oder durch eine andere Grunderkrankung ausgelöst wurde, kann vielleicht die Grunderkrankung behandelt werden.

Das könnte Sie auch interessieren

Auslöser könnte zum Beispiel Diabetes oder Alkoholismus sein. Unter diesen Umständen könnte die Demenz gelindert, oder sogar geheilt werden. Dann könnte es sein, dass der Schnee tatsächlich wieder taut.