„Ssst, plopp.“ Dieses wohlvertraute Geräusch weckte Herrn Krämer jeden Morgen. Es war die Zeitung, die durch den Briefschlitz geschoben wurde und dann in den Briefkasten plumpste.
Damit genoss er das liebgewordene Ritual: Blättern, schmökern und interessante Artikel für den Abend zur Seite legen. Der Geruch nach Druckerschwärze und frischem Kaffee begleitete Herrn Krämer in den neuen Tag. Jetzt ist er 84 Jahre alt, von einer Demenz betroffen – und liebt seinen SÜDKURIER immer noch.
Zeitung gehört zum Tag
„Die Zeitung gehört für uns ganz selbstverständlich zum Tag“, schildert Brigitte Gräble, die die Tagespflege der Sozialstation St. Wolfgang in Engen leitet. Die Pflege- und Betreuungskräfte lesen den Gästen aus der Zeitung vor oder fassen Artikel in eigenen Worten zusammen.
Sie gehen mit der Zeitung von Sitzplatz zu Sitzplatz und zeigen die Bilder. „Ganz schlimme Themen wie Kindesmissbrauch, Krieg oder Tod klammern wir eher aus“, berichtet Gräble. Allzu leicht kramt man sonst negative Erinnerungen hervor, die man gar nicht herausholen müsste. Dem stimmt auch Teamleiterin Stefanie Neurohr von der Tagespflege St. Martin in Gottmadingen zu.
Ins Gespräche kommen
Beim Besuch des SÜDKURIER in der Zeitungsrunde erläuterte sie: „Schreckensnachrichten erwähnen wir oft gar nicht – oder nur kurz.“ Positiver sei leicht verdauliche Zeitungs-Kost: Etwa die Meldung aus der lustigen Ecke unten rechts – über die man dann ins Gespräch kommt.
Überhaupt gehe es weniger um die Informationsweitergabe. Wichtiger sei, mit dem Gegenüber in einen Dialog zu treten, in dem sein Leben vorkommt. Stefanie Neurohr bereitete für die Gäste der Tagespflege etwa einen Artikel über die Folgen von Corona für die Wintersport-Saison auf.
Weitere Folgen der Serie „Leben mit Demenz„
Das Thema Corona erwähnte sie nur zum Einstieg. Schnell leitete sie dann zum groß aufgemachten Bild über. Dies zeigte einen Skifahrer auf der Piste. Und schon waren sie mitten im Gespräch: „Sind Sie früher auch Ski gefahren?“ „Wo war ihr Lieblings-Skiort?“ Oder auch: „Was haben Sie bevorzugt? Alpin oder Langlauf?“
Bezug zur Biographie
Die Kunst besteht dabei darin, die Meldungen aus der Zeitung in Zusammenhang mit dem Leben der Zuhörer zu bringen. Das gilt auch beim Lokalteil. Bezug zur Biographie schafft Verbundenheit – oder auch nicht. Wer seinen Partner in der Scheffelhalle kennengelernt hat, wird sich für den Brand des Singener Wahrzeichens interessieren. Der Hannoveraner, der erst vor zwei Monaten zu seiner Tochter nach Hilzingen gezogen ist, findet diese Nachricht weniger prickelnd.
Es kann sinnvoll sein, auch einmal einen zeitgeschichtlichen Rückblick einzubauen. Betrachtet man gemeinsam das Fernsehprogramm in der Zeitung, kann es helfen, statt über aktuelle Stars lieber über die von früher zu sprechen. Frankenfeld, Kulenkampff und Rosenthal sind manchmal besser bekannt als Jauch, Pilawa oder Pflaume. Ähnlich kann es bei Politikern sein – mit Adenauer und Heuss weiß mancher Senior mehr anzufangen als mit Merkel und Steinmeier.
Und die Todesanzeigen? Soll man dementen Menschen Todesanzeigen vorlesen? Stefanie Neurohr zeigt sich zurückhaltend: In ihrer Zeitungsrunde werden die Todesanzeigen eher überblättert.
Anders sieht es Brigitte Gräble: „Wir schauen die Todesanzeigen bewusst an. Die Gäste würden das zuhause ja auch machen.“ Sie sieht darin mehr Chancen als Gefahren. „Bei uns ist noch nie jemand beim Lesen der Todesanzeigen in Tränen ausgebrochen“, so Gräble. Falls es doch einmal passieren sollte, dann kennt sie die Gäste gut genug, um sie wieder ermutigen zu können.