Herr Sturm, von einem Medium wurden Sie mit dem Satz zitiert: „Es wäre gut, wenn die katholische Kirche richtig stürzen würde.“ Sind Sie mit diesem Zitat noch glücklich?
Ja. Ich bin der Meinung, dass sich in der römisch-katholischen Kirche nur etwas ändern wird, wenn es nicht mehr so weitergeht. Es braucht dringend echte Veränderungen und davon ist leider noch nichts zu sehen. In meinem Buch spreche ich von Co-Abhängigkeit, vergleichbar den Co-Abhängigen von Alkoholkranken, die durch Untätigkeit oder Mithilfe das kranke System unterstützen. Viele trösten sich, dass es trotz der vielen Kirchenaustritte doch irgendwie weitergeht oder dass diejenigen, die austreten, vielleicht nicht so gläubig sind. Viele blenden manche Realitäten aus, fühlen sich an ihrem Ort wohl und überlassen das Kämpfen für Veränderungen den anderen: den engagierten Synodalen in Frankfurt oder anderen Reformgruppen.
Wie könnte denn ein Sturz aussehen?
Wenn Würdenträger oder Gemeinden viel deutlicher Reformen einfordern und den Status quo nicht mehr unterstützen. Wenn die Forderung nach Reformen, wie sie ja auch immer mehr Bischöfe erheben, nicht nur leere Worte bleiben, sondern ernst gemeint sind, bringt das etwas in Bewegung. Wenn Frauen nicht mehr ruhig sind, sondern mutig predigen. Wenn Pfarrer, die den Zölibat nicht leben, sich ehrlich zu diesen Beziehungen bekennen, kann sich etwas verändern. Die römisch-katholische Kirche verliert so viele engagierte Menschen, wenn sie einen Teil der Bevölkerung ausgrenzt beispielsweise wegen Homosexualität oder nach Wiederverheiratung von Geschiedenen von den Sakramenten ausschließt. Das ist traurig und ein echter Verlust.
Wann kamen Ihnen Bedenken zur Struktur der römisch-katholischen Kirche? Beweise für die strikte Haltung gibt es doch schon lange, wie das Lehrverbot für Hans Küng oder die Ablehnung der Befreiungstheologie.
Da muss ich etwas weiter ausholen. Ich habe mich in der römisch-katholischen Kirche immer wohlgefühlt. Sie war meine Heimat, sozusagen alternativlos. Die alt-katholische Kirche tauchte in meiner Kindheit und Jugend in der Pfalz nicht auf, weil sie dort fast nicht vorkommt. Den Prozess bis zu meiner Konvertierung würde ich als Weg einer Entfremdung beschreiben. Es sind Dinge auf diesem Weg zerbrochen. Es gibt nicht den berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, sondern das Fass hat sich mit der Zeit gefüllt und war dann eben voll. Ich war lange in der Jugendarbeit tätig und habe dort Kirche anders erlebt. Wir haben immer als Team gehandelt. Natürlich habe ich in den Jahren die Grenzen meiner Möglichkeiten gespürt, doch bei mir war die Hoffnung, dass es Veränderungen gibt immer größer.
Ist Ihnen Veränderung in der Kirche gelungen?
Teilweise ja. Es ist uns gelungen, zwei Frauen als Hauptabteilungsleiterinnen im Bistum einzustellen. Früher erhielten nur Priester diese Stellen. Als ich meinen „säkularen“ Freunden von diesem Erfolg erzählte, fanden die gar nichts Besonderes dabei. Daran spürte ich deutlich, in welch einer Blase ich gelebt habe, in der winzige Fortschritte, die in der säkularen Gesellschaft selbstverständlich sind, als unglaubliche Neuerung galten. Und man hatte natürlich mit vielen Betonköpfen zu tun, die einen scharf angingen. Ich hatte große Hoffnung auf Papst Franziskus gesetzt, dass er dafür sorgt, dass die Teilkirchen mehr Autonomie erhalten. Das ist leider nicht passiert. Wenn weiterhin darauf gewartet werden muss, bis alle Teilkirchen auf der Welt sich bei einem Thema einig sind, kann das lange dauern.
Welche Bedeutung hatte das Schreiben Ihres Buches „Ich muss raus aus dieser Kirche. Weil ich Mensch bleiben will“? Haben Sie das eher für sich selbst geschrieben, zur Klärung? Oder für Ihr Umfeld als Rechtfertigung?
Seit ich 19 oder 20 Jahre alt war, schrieb ich immer dann Tagebuch, wenn mich etwas beschäftigte oder aufwühlte. Früher waren es die roten Kladden mit den schwarzen Ecken, dann tippte ich alles in den Laptop. Ich wollte zum einen mir Klarheit verschaffen, warum ich diesen Weg gehe, zum anderen sollte es eine Erklärung für meinen Freundeskreis sein. Einigen von ihnen stieß ich mit meiner Konvertierung vor den Kopf. Nie habe ich gedacht, dass ein Buch aus meinen Aufzeichnungen entsteht, sondern ich wollte das im Selbstverlag drucken lassen für Freunde und Bekannte. Auf einer Veranstaltung kam ich aber ins Gespräch mit dem Cheflektor des Herder Verlags, dem ich dann meine Aufzeichnungen zukommen ließ.
Und es hatte Erfolg.
Ja, es war zehn Wochen lang auf der Bestsellerliste des „Spiegel“ und ist nun als Hörbuch herausgekommen. Für manche war der Titel ein rotes Tuch, aber zum Inhalt bekam ich vor allem sehr viel positive Rückmeldung.
Wie hat Ihr Umfeld auf die Bekanntgabe Ihrer Konvertierung reagiert?
Auf der menschlichen Ebene war es natürlich ein schwieriger Schritt. Mit Bischof Wiesemann hatte ich mich davor schon unterhalten und ich habe ihn als sehr verständnisvoll erlebt. Deshalb ist er nicht aus allen Wolken gefallen. Mich hat die Frage belastet, wie es ihm mit meiner Entscheidung gehen würde. Dazu kommt, dass ich als Generalvikar ein tolles Team um mich hatte, mit dem ich sehr eng und vertrauensvoll zusammengearbeitet habe. Auch das machte es nicht einfach für mich zu gehen. Ich habe aber gespürt, dass ich die Reißleine ziehen muss, um nicht selbst krank zu werden. Dabei habe ich es mir mit der Entscheidung nicht leicht gemacht. Dies war Thema in der geistlichen Begleitung und in Exerzitien.
Sind Freundschaften dabei zerbrochen?
Vermutlich schon, oder sie liegen zumindest mal auf Eis. Ich hoffe, dass sie sich teilweise zusammenfügen lassen, aber es wird sicher bei einigen nicht mehr so sein, wie es vorher war.
Der synodale Weg, den die römisch-katholischen Kirche geht, wird wahrscheinlich lang sein. Meinen Sie, diese Zeit bleibt ihr noch?
Es ist die Frage, ob diese Kirche sich wirklich verändern will. Wenn die Gemeindemitglieder sehen, dass sich für sie nichts verändert, wird die Zahl der Austritte hoch bleiben. Und das betrifft alle Kirchen, denn durch die ganzen Skandale haben alle Kirchen Vertrauen bei den Menschen verspielt. Wenn der Vertrauensvorschuss in unsere kirchlichen Institutionen schwindet, können wir alle einpacken. Keine Kirche darf sich mit dem Status quo zufrieden geben, sondern muss immer wieder schauen, wo sie sich verändern kann, damit die Botschaft auch heute gehört wird.
Auch die alt-katholische Kirche muss hier am Ball bleiben und darf sich nicht ausruhen. Es gibt bei uns zwar Priesterinnen, aber nur wenige Frauen entscheiden sich dafür, ihre Berufung auch im Hauptamt zu leben. Da muss sich etwas ändern und ich könnte mir vorstellen, dass durch gezielte Frauenförderung sich an diesem Zustand etwas ändern lässt.
Sie sind in den Hörsaal zurückgekehrt, um den Master in alt-katholischer Theologie zu machen. Wie fühlt sich das an? Haben Sie sich Schwerpunkte gesetzt?
In den Hörsaal zurückzukehren ist wirklich gewöhnungsbedürftig. (lacht) Ich muss ein Referat halten und mich daran gewöhnen, wieder geprüft zu werden. Aber ich finde es auch fantastisch, intensiv in theologische Diskussionen einzusteigen. Einen Schwerpunkt habe ich noch nicht.
Wie lange wird das Master-Studium dauern?
Da ich es berufsbegleitend mache, wird es sich über vier Jahre erstrecken.
Was ist Ihnen in Ihrer zukünftigen Arbeit wichtig? Was wollen Sie in Ihren neuen Gemeinden Singen und Sauldorf/Meßkirch vermitteln?
Zunächst einmal ist es wichtig für die Gemeinden, dass Ruhe und Beständigkeit in unsere Gemeinden kommt. Sie mussten in sehr kurzer Zeit eine ganze Reihe an Personalwechseln ertragen, und es gab jetzt auch eine lange Vakanz. Ich möchte erst mal da sein und für Kontinuität sorgen. Im Moment bin ich noch damit beschäftigt, mich bekannt zu machen in persönlichen Gesprächen und in Gottesdiensten oder bei der Kommunionvorbereitung. In Singen habe ich eine Sprechstunde „Ganz Ohr“, die immer besser angenommen wird.
Die alt-katholische Gemeinde hat keine Räume in Sauldorf oder Meßkirch und Sie kein Büro vor Ort.
Und die Kirche ist auch renovierungsbedürftig. Wir müssen uns zusammensetzen und überlegen, was wir für das Gemeindeleben brauchen.
Wie wird es mit der Ökumene aussehen? Mit der Zusammenarbeit der römisch-katholischen Kirche vor Ort?
Ich hatte sehr gute Gespräche mit den Kolleginnen und Kollegen der christlichen Kirchen hier im Gebiet, trotzdem kann man die Zusammenarbeit sicher noch intensivieren. An Allerheiligen ist mir das selbst stark aufgefallen. Da gehen wir zur Gräbersegnung auf den Friedhof und kurze Zeit später kommt der römisch-katholische Kollege. Aber es sind doch Familien, Nachbarn und Freunde, die hier nebeneinander auf dem Friedhof liegen. Da spielt es doch keine Rolle, ob alt- oder römisch-katholisch. Ich bin mir aber sicher, dass wir solche und andere Themen gut, vertrauensvoll und konstruktiv ansprechen können und so zu guten Lösungen für alle Beteiligten kommen.
Zur Person und der Alt-Katholischen Kirche
- Biografie: Andreas Sturm wurde 1974 in Frankenthal geboren, studierte katholische Theologie, erhielt 2002 die Priesterweihe und war von 2018 bis 2022 Generalvikar im Bistum Speyer, wo er längere Zeit Bischof Karl-Heinz Wiesemann aufgrund von Krankheit vertrat. Sturm war 20 Jahre lang Pfarrer im Bistum Speyer und wirkte neben der Gemeindeseelsorge unter anderem als Referent für Ministrantenpastoral, geistlicher Leiter der Katholischen jungen Gemeinde (KjG) und als Diözesanpräses des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ). Vor seiner Berufung zum Generalvikar war er Pfarrer und Dekan in der Saarpfalz. Im Mai konvertierte Andreas Sturm zum alt-katholischen Glauben. Er veröffentlichte das Buch „Ich muss raus aus dieser Kirche. Weil ich Mensch bleiben will“. Seit August 2022 arbeitet er in den alt-katholischen Gemeinden Singen und Sauldorf-Meßkirch.
- Die Kirche: Die alt-katholische Kirche in Deutschland entstand in den 1870er Jahren in Abgrenzung zu den Beschlüssen des Ersten Vatikanischen Konzils (1869-1870) zur Unfehlbarkeit und zum Jurisdiktionsprimat des Papstes. Zum deutschen Bistum gehören knapp 15.000 Mitglieder in 60 Pfarrgemeinden. Ein regionaler Schwerpunkt der Verteilung der Alt-Katholiken liegt auf dem Gebiet des ehemaligen Bistums Konstanz. Die Kirchenordnung der alt-katholischen Kirche ist bischöflich-synodal. In den vergangenen Jahren erlebt die Kirche mit mehreren Hunderten Beitritten pro Jahr einen großen Zustrom an Mitgliedern, die zuvor zur römisch-katholischen Kirche gehörten.