Auf dem Wohnzimmertisch steht wie jeden Tag eine brennende Kerze, mehrere Schälchen sind mit Süßigkeiten, Gebäck und kleinen Salzbrezeln gefüllt. Baraa sitzt mit hochgelegten Beinen auf dem Sofa. Sie ist ruhig, meldet sich während des SÜDKURIER-Besuchs ganz selten zu Wort. Ihr Bruder Sherbel (32) und Mutter Hanan Hanna übernehmen das Sprechen für die 28-Jährige, die ihr Kurzzeitgedächtnis verloren hat. Sich zu konzentrieren, fällt der jungen Frau schwer. Eine Folge des lebensbedrohlichen Unfalls, den sie am 30. Oktober 2023 erlitten hat. An den verhängnisvollen Tag kann sie sich nur schemenhaft erinnern. Der Unfall hat sie komplett aus der Bahn geworfen. Dass sie noch lebt, grenzt an ein Wunder. Der aus Syrien stammenden Familie hilft ihr Glaube an Gott durch die schwierige Zeit. „Wir beten viel für meine Schwester. Der liebe Gott hat für jeden einen Weg vorgesehen, und wir werden ihn gehen.“
Wohnung nicht rollstuhlgerecht
Baraa war drei Jahre alt, als die aramäische Familie nach Deutschland zog. Ein aufgewecktes Mädchen, eine hübsche, lebenslustige Frau. Davon zeugen Fotocollagen, die neben dem gerahmten Meisterbrief in ihrem Zimmer an der Wand hängen. Ein Pflegebett sollte hier nicht stehen. Und auch kein Rollstuhl. Baraas linke Körperseite ist gelähmt, das Sprechen musste sie erst wieder lernen. Den Alltag bestimmen drei Mal täglich Medikamente, Thrombosespritzen und ein intensives Rehabilitationsprogramm. Sie hat jeden Tag im Wechsel Physio- und Ergotherapie. Die Therapeuten kommen zu ihr nach Hause. Die Mietwohnung liegt im ersten Stock, 20 Stufen und eine kleine Kurve sind zu bewältigen. „Wir suchen dringend eine behindertengerechte und erschwingliche Wohnung“, erzählt Sherbel. „Ich habe bestimmt schon zehn Wohnungen angeschaut und Absagen erhalten.“ Er und seine Freunde tragen Baraa im Rollstuhl nach unten und wieder in die Wohnung, wenn sie zum Arzt muss oder mal im Stadtgarten etwas frische Luft schnappen will.
Traum vom eigenen Salon
In Pfullendorf machte Baraa bei „Frisuren-Trend“ mit 17 eine Friseurlehre, arbeitet zuletzt sieben Jahre in Überlingen bei „Wilbert & Wilbert“ und legte 2021 erfolgreich ihre Meisterprüfung ab. Sie träumte von einem eigenen Salon. Am Morgen des 30. Oktobers 2023 war Baraa auf dem Weg zu ihrer theoretischen Führerscheinprüfung, als sie von der Bushaltestelle beim Überlinger Gewerbegebiet die L200 überqueren wollte. Hier ist Tempo 70 erlaubt. Baraa wurde mit hoher Geschwindigkeit von einem Auto erfasst. Sie erlitt neben einem Beckenbruch, Schürfwunden und Beinbrüchen ein sehr schweres Schädel-Hirn-Trauma. Ein zufällig vorbeijoggender Arzt leistete erste Hilfe, ein Rettungshubschrauber flog die Schwerverletzte nach Ravensburg ins Krankenhaus. Am Steuer des Autos saß eine 20-jährige Fahrerin. „Es ist sehr schade, wir haben von ihr nie einen Anruf oder einen Brief erhalten“, bedauert die Mutter.
Mutter erleidet Schock
Während Baraa sich nicht erinnert, hat sich der 30. Oktober bei Sherbel ins Gehirn eingebrannt. „Montag war der Unfall, Mittwoch hätten wir in Überlingen einen Besichtigungstermin gehabt, Baraa wollte sich mit einem eigenen Salon selbständig machen.“ Sherbel erzählt, dass er Spätschicht hatte und von der Polizei um 8.30 Uhr aus dem Bett geklingelt wurde. Mit der Mutter sei er sofort in die Klinik gefahren, wo Hanan Hanna einen Schock erlitt und zusammenbrach. Baraas Leben hing an Geräten, sie lag dreieinhalb Wochen im Koma, ehe sie das erste Mal aufwachte. Danach verlegten die Ärzte sie zwei weitere Wochen in ein künstliches Koma, um das Risiko für bleibende Schäden zu verringern.
Sie geben die Hoffnung nicht auf
Sherbel arbeitet bei Geberit und ist aktuell freigestellt, weil er sich um Baraa kümmert und als ihr Betreuer eingesetzt ist. „Es gibt sehr viel Papierkram zu erledigen, diesen Kampf wünsche ich keinem Menschen auf dieser Welt. Der Unfall ist ein Jahr her, erst jetzt wurde der vorläufige Betreuerausweis bestätigt.“ Verzweifelt ist er schier an der Einschätzung des Gutachters. „Baraa kann sich kaum bewegen und nichts selbständig machen, warum bekommt sie nur Pflegegrad drei? Dem habe ich widersprochen, jetzt hat sie Pflegegrad vier.“
Trotz der enormen psychischen und finanziellen Belastung blickt die Familie positiv in die Zukunft. „Es gibt gut und schlechte Tage. Aber wir geben die Hoffnung nicht auf. Wir glauben fest daran, dass Baraa eines Tages wieder laufen wird.“