Die Pflege bleibt angesichts des demografischen Wandels ein gesamtgesellschaftliches Thema. Im Jahr 2060 wird mehr als ein Drittel der auf 70 Millionen Einwohner geschrumpften deutschen Bevölkerung älter als 65 Jahre alt sein und sich die Zahl hochbetagter Menschen auf neun Millionen verdoppelt haben.
Zahl der Pflegebedürftigen steigt deutlich an
Experten prognostizieren bis 2030 eine Steigerung der pflegebedürftigen Personen um 35 Prozent und bis 2050 um 93 Prozent, wofür allein in Baden-Württemberg 51 000 beziehungsweise 141 000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt werden. „Schon jetzt leidet die Pflege unter Personalmangel und ganze Stationen können nicht belegt werden, weil Beschäftigte fehlen“, berichtete Wiltrud Bolien, Sozialplanerin im Landratsamt Bodenseekreis. Mangels Mitarbeitern stoßen auch ambulante Pflegedienste an ihre Kapazitätsgrenze und können keine neuen Kunden aufnehmen.
In Baden-Württemberg blicken viele Heimbetreiber sorgenvoll auf den 31. August. An diesem Tag endet eine zehnjährige Übergangsfrist bezüglich der Umsetzung der am 1. September 2009 verabschiedeten Heimbauverordnung. Darin wurde beschlossen, dass Heimbewohnern grundsätzlich ein Einzelzimmer mit eigenem Sanitärbereich zur Verfügung stehen soll. Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hat entschieden, dass in Einzelfällen Träger eine Verlängerung von bis zu 25 Jahren bekommen können, wenn sie belegen können, dass die Investitionen zur Umsetzung der Heimordnung für sie wirtschaftlich unzumutbar wäre.
In Sigmaringendorf muss ein Pflegeheim schließen
Viele Heimbetreiber beklagen, dass sie zur Umsetzung der Heimbauverordnung enorme Investitionen tätigen müssten, sodass ein wirtschaftlicher Betrieb der Einrichtung nicht mehr möglich sei. Im Landkreis Sigmaringen meldete im November 2018 die Betreiberfirma Ameos, dass sie ihr Haus „Silberdistel“ in der Heubergberggemeinde Stetten a.k.M. mit 68 Betten Ende 2019 schließen wird.

Auch in der Donaugemeinde Sigmaringendorf muss ein Pflegeheim mit rund 30 Plätzen schließen, weil es die neuen Vorgaben nicht erfüllt. „Wir steuern auf einen Kollaps zu“, befürchtet ein Heimleiter aus einem Nachbarkreis, der allerdings ungenannt bleiben will. Durch die Schließungen in Stetten a.k.M. und Sigmaringendorf verringert sich die Pflegeplatzzahl im Landkreis Sigmaringen von aktuell 923 bis Ende 2019 auf 829. Dazu kommen 14 Kurzzeitpflegeplätze und 132 Tagespflegeplätze.
Wie fragil die Situation in der gesamten Region ist, zeigte sich in der Weihnachtszeit, als beispielsweise die Krankenhäuser in der gesamten Region viele Patienten nach Hause schickten und es keinen freien Platz in der Kurzzeitpflege oder auch Tagespflege gab.
Für schnelle Umsetzung entschieden
Die Heimaufsicht im Landratsamt Sigmaringen bedauert die Entwicklung, und weist daraufhin, dass das Land im Jahr 2010 die Pflegeheimförderung komplett eingestellt habe und damit den Stadt- und Landkreisen jegliche Steuerungsmöglichkeit bezüglich des Angebotes genommen wurde. Auf Anfrage des SÜDKURIER ergänzt Sozialdezernent Frank Veser, dass sich Baden-Württemberg bewusst für eine schnelle Umsetzung der neuen Heimverordnung entschieden habe, und damit in Kauf nehme, dass nur wenige stationäre Einrichtungen die vollen 25 Jahre Übergangsfrist ausschöpfen können.
Es sollte auch um die Bedürfnisse der Betroffenen gehen
Kritisch merkt Veser an, dass im Landkreis noch viele Heimträger davon ausgehen, dass ihnen diese Fristverlängerung zustehe und sie ihre Bestandsbauten nicht an die neuen Anforderungen anpassen müssten. „Ein paar wenige Träger sind auf die Heimaufsicht zugekommen, um mit der Umsetzung zu beginnen“, nennt Veser die Caritas, die in Meßkirch einen Ersatzbau für das Conrad-Gröber-Haus erstellt. Kritisch äußert sich der Sozialdezernent über die öffentliche Darstellung mancher Träger, die suggerierten, dass durch die Heimbauverordnung die Versorgung im Alter gefährdet würde. In der Diskussion bezüglich des Wegfalls der Doppelzimmer spielten die Bedürfnisse der Menschen oft keine Rolle, sondern einzig die wirtschaftliche Situation der Heimträger.
Im Bodenseekreis setzt man auf Gespräche mit den Trägern
Einen Pflegenotstand aufgrund der verordneten neuen Infrastruktur sieht Achim Lange, Leiter der Betreuungsbehörde und Heimaufsicht im Landratsamt des Bodenseekreises, nicht. Er bestätigt, dass es im Raum Überlingen mit den Trägern von Betreuungseinrichtungen Gespräche über deren Anträge gebe, aber noch keine Ergebnisse. Bei der Vinzenz von Paul gGmbH, die im Landkreis Sigmaringen ein Dutzend Pflegeheime betreibt, ist man aufgrund der Angebotsbreite noch in der Lage, bei entsprechenden Anfragen firmeninterne Lösungen zu finden. „Aber es wird zunehmend herausfordernder“, erklären die Regionalleiter von Sigmaringen und Bad Saulgau, Ursula Niemczewski und Thomas Roth, denn man spüre die Erwartungshaltung der Menschen mit Hilfebedarf und deren Angehörigen.
Experten für Einführung eines Tarifvertrags
Man versuche, mit dem Ausbau von Tagespflegeangeboten und ambulanten Wohngruppen mehr Unterstützung zu bieten. Um die demografische Herausforderung meistern zu können, ist nach Ansicht der Experten die flächendeckende Einführung des Tarifvertrages mit attraktiven Sozialleistungen nötig, selbstkritisch die Arbeitsbedingungen des Personals zu betrachten, die Finanzierung zu hinterfragen und die Entbürokratisierung voranzubringen.
Vorgaben
- Heimbauverordnung: Zum 1. September 2009 wurde die Verordnung mit der Neuregelung beschlossen, dass Heimbewohnern grundsätzlich ein Einzelzimmer mit eigenem Sanitärbereich zur Verfügung stehen soll. Für alle Bestandsbauten wurde eine zehnjährige Regelübergangsfrist und der Betrieb bis 31. August 2019 gewährt. Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hat entschieden, dass in Einzelfällen Träger eine Verlängerung von bis zu 25 Jahren bekommen können, wenn sie belegen können, dass die Investitionen zur Umsetzung der Heimordnung für ihn wirtschaftlich unzumutbar wäre.
- Doppelzimmer: Nach Angaben der Heimaufsicht im Landratsamt Sigmaringen wird dies immer möglich sein. Es werde weiterhin einzelne Doppelzimmer aufgrund von Befreiungen geben. In Neubauten nach 2009 müssen Nutzungseinheiten eingerichtet werden, die dann von zwei Menschen, die bewusst und gewollt zusammenleben wollen, bezogen werden können.
- Betreuungsschlüssel: Ab 1. Januar 2020 gelten folgende Personalschlüssel. Bei Pflegegrad eins ist das Verhältnis zwischen Pfleger und zu Pflegenden auf 1:6,11 bis 1:4,37 festgelegt. Bei Pflegegrad zwei auf 1:4,76 bis 1:3,4. Bei Pflegegrad drei auf 1:3,26 bis 1:2,41. Bei Pflegegrad vier auf 1:2,55 bis 1:1,84. Bei Pflegegrad fünf auf 1:2,32 bis 1: 1,67. Für den Bereich Hauswirtschaft beträgt beim Personalschlüssel die Obergrenze 1:30, ebenso für die Leitung und Verwaltung.
- Sozialministerium: Seit 1. Januar greift eine zweite Stufe zur Verbesserung der Personalrichtwerte. Wenn eine Einrichtung nachweisen kann, dass über 50 Prozent der Gesamtbewohner nach dem 1. Januar 2017 auf der Grundlage des neuen Begutachtungsverfahrens begutachtet worden sind, kann sie ab 1. Januar 2019 eine weitere Erhöhung der obersten Personalschlüssel um 0,6 Prozent pro 10 Prozent neubegutachteter Bewohnerinnen und Bewohner über 50 Prozent verlangen.
- Kosten: Seit 2017 gilt in jeder vollstationären Pflegeeinrichtung ein einrichtungseinheitlicher, pflegebedingter Eigenanteil.
Kreis Sigmaringen
Aktuell gibt es im Kreis Sigmaringen 19 Einrichtungen, die 923 Dauerpflegeplätze anbieten, darunter sind 67 eingestreute Kurzzeitplätze, die als Dauerpflegeplatz genutzt werden können.
Bodenseekreis
Aktuell gibt es insgesamt 1726 vollstationäre Pflegeangebote, wobei sich der Bedarf nach Expertenangaben bis 2025 auf 2040 Plätze erhöhen wird. In den Einrichtungen des Bodenseekreis gibt es 220 Doppelzimmer.
Prognose
Wenn im Bodenseekreis alle Doppelzimmer nur noch als Einbettzimmer genutzt werden, fehlen bis 2025 insgesamt 442 Plätze. Im Kreis Sigmaringen fallen aufgrund der Heimschließungen 93 Plätze weg, sodass es bis Ende 2019 noch 829 Plätze gibt.
Pfullendorf
Die Bertelsmann-Stiftung prognostiziert in ihrem Sozialbericht für 2030 einen Bevölkerungsanteil der über 65-Jährigen von 26,9 Prozent, wobei sich die Gesamtbevölkerung um 1,6 Prozent verringert.