Die Baar verfügt über ein reiches und weitverzweigtes Kulturerbe – und das beleuchtet der SÜDKURIER in einer Serie anhand von fünf Beispielen. Als Drittes gilt das Interesse dem Erzählen. Dabei spannt sich ein weiter Bogen vom klassischen Märchenerzählen bis zum jugendlich frischen Poetry-Slam.
Wer die Geschichte von einer erdachten oder wirklichen Begebenheit gut erzählt, inspiriert seine Zuhörer: Er regt sein direktes Gegenüber oder seine kleinen wie großen Zuhörer zum Nachdenken an, löst Emotionen aus, sorgt für Spannung oder angenehme Unterhaltung. Für ein zivilisiertes Zusammenleben bedeutet das viel. Der kürzlich verstorbene Schriftsteller Ludwig Harig nannte das Wort "erzählen" nicht ohne Grund "mein schönstes, mein kostbarstes deutsches Wort".
Tradition Märchenerzählen

Das Märchenerzählen zählt für die UNESCO zum Immateriellen Kulturerbe und hat eine jahrhundertealte Tradition. Die Donaueschingerin Martina Wiemer, Mitglied der Europäischen Märchengesellschaft, verfügt nicht nur über viel praktische Erzählerfahrung, sondern weiß auch in der Theorie, wie man speziell Kindern vermitteln kann, wie sie "Märchen als Schlüssel zur Welt" verstehen können. Sie sagt: Man muss als Erzählerin einen eigenen sprachlichen Grundton finden, sich um eine stimmungsvolle Atmosphäre kümmern, auf das optische Vorstellungsvermögen der kleinen Zuhörer eingehen, die Wirkung des Erzählten bedenken, die ethischen Orientierungen wie etwa die Kraft der Zuversicht bewusst machen und schließlich die vielfältige Symbolik eines Märchens erklären.
Heiligenlegenden für Kinder
Eine andere Gattung der Erzählung ist insbesondere in den katholischen Kindergärten gefragt, also zum Beispiel in St. Lioba und St. Elisabeth in Donaueschingen, St. Vinzenz in Bräunlingen oder St. Verena in Hüfingen. Hier sollen die Kinder erfahren, wer die Person ist, nach der ihr Kindergarten benannt ist und warum sie verehrt wird. Naturgemäß vermischen sich dabei konkrete historische Fakten und nicht belegbare Legenden. In der Erzählung kann aber deutlich werden, worin eine gute Tat besteht, was als Wunder bezeichnet wird, was es früher für Lebensformen gegeben hat oder warum bestimmte Menschen lange nach ihrem Tod noch als Vorbild angesehen und verehrt werden.
Vorlesen als Magnet

"Oma, kannst du mir vorlesen?" Wer Enkelkinder hat, die selbst noch nicht lesen können, kennt Fragen wie diese gut. Textgenaues Lesen, umschreibendes Erläutern mit eigenen Worten und aufmerksames gemeinsames Betrachten von Illustrationen werden zur untrennbaren Einheit. Aber auch für viele Grundschulkinder gilt, dass Vorlesen und Erzählen auf sie viel Anziehungskraft ausüben. Die städtischen Bibliotheken der Baar bieten deshalb mit engagierter Unterstützung durch freiwillige Lesepaten regelmäßig Vorlesestunden an. Christiane Lange, die Leiterin der Stadtbibliothek Donaueschingen, sagt: "Um stark im Lesen zu werden, muss ein Kind zuhören können."
Reiz von Kostümführungen
Wer eine Stadt näher kennenlernen möchte, kann an einer Stadtführung teilnehmen. Er möchte erzählt bekommen, was es mit der Geschichte des Ortes, seinen Bauwerken und anderem auf sich hat. Die Stadtführer sind dabei meistens Menschen, die sachlich informieren und ein paar Anekdoten einstreuen. In jüngerer Zeit werden auf der Baar vermehrt Führungen angeboten, bei denen aus speziellen Perspektiven erzählt wird. Stadtführer schlüpfen in Kostüme und erzählen Interessantes aus der Sicht etwa eines Hüfinger Nachtwächters in Begleitung einer Hebamme oder als Fräulein zur Kur in Dürrheim vor 100 Jahren. Ihr Erzählduktus hat andere Farben, die Verbindung von Theatralik und Information schafft einen eigenen Reiz.
Begeisterung für Poetry-Slams

Erzählen sucht und findet aber auch immer wieder ganz neue Ausdrucksformen. Erst 30 Jahre ist es her, dass hierzulande eine ganz neue Form des Erzählens begeistert, die sich Poetry-Slam nennt. In einem Wettbewerb tragen die Teilnehmer dabei selbst verfasste kurze Texte als künstlerische Performance vor und das Publikum wählt am Ende einen Sieger. Als Plattform für dieses spannende neue Erzählen hat sich mit Experimentierfreude und Erfolg das Donaueschinger Museum Art-Plus geöffnet.
Die SÜDKURIER-Serie
Fünf ganz unterschiedliche Bereiche stellt der SÜDKURIER in seiner Kulturerbe-Serie vor. Es handelt sich zwar um ein ungemein weites Feld, aber seine Parzellen gehören doch zusammen. Darin geht es um materielles und immaterielles kulturelles Erbe.
Folge 1: Orgeln in Dörfern der Baar
Folge 2: Die Baaremer Brotkultur
Folge 3: Märchen und die Kunst des Erzählens
Folge 4: Faszination Karten spielen
Folge 5: Das Hebammenwesen und die natürliche Geburt
Tausend Plätze fürs Erzählen: Überall gibt es Orte für Worte
Die Erzählkultur lebt auf der Baar an vielen unterschiedlichen Orten. Sie wird mit Dach über dem Kopf wie auch unter freiem Himmel gepflegt.
- Im privaten Wohnzimmer: "Lebenserfahrung und Tiefe braucht's" – besucht man Martina Wiemer zu Hause, ist man bald ganz theoretisch beim Erzählen vom Märchenerzählen. Schnell bekommt man zu spüren, wie viel ernsthaftes Überlegen vorausgeht, bevor sie selbst – am liebsten in der Natur – ein Märchen der Brüder Grimm im Originaltext erzählt. "Der Grundton ist mir dabei wichtig, und zwar der Grundton der Zuversicht. Jedes Grimmsche Märchen endet gerecht, und ein gerechtes Ende hält jedes Kind trotz aller gehörten Schwierigkeiten in der erzählten Geschichte aus."
- Im originellen Märchenhaus: "Mir war immer die Sprache wichtig" – die ehemalige Hüfinger Kindergartenleiterin Elke Menner sagt dies mit großer Ruhe und setzt hinzu: "Beim Erzählen von Märchen wird meine Stimme anders." Auch sie selbst wird beim Erzählen eine andere. Das alte Mesnerhaus in der Hüfinger Grabengasse hat sie mit Hilfe ihrer Familie in ein fantasiereich dekoriertes Märchenhaus umgestaltet. Hier kann sie das Erzählen für Kinder wie Erwachsene zum Erlebnis über die Sprache hinaus werden lassen. "Ich habe immer Requisiten, weil in den Märchen schöne Dinge vorkommen."
- Im katholischen Kindergarten: "Erzählen schafft eine persönliche Beziehung und Bindung. Bindung vor Bildung!" Lucia Fricker, die Leiterin des katholischen Donaueschinger Kindergartens St. Lioba, hat präzise Vorstellungen vom Wert und den Aufgaben ihres Berufes. Sie bittet ihre Kollegin, die Erzieherin Martina Schroff, den Kindern die Legende der Heiligen Lioba zu erzählen; deren Namenstag steht bevor. "Spitzt mal die Ohren!", sagt Martina Schroff und animiert die Fünfjährigen zum Mitdenken. Im lebendigen Zwiegespräch geht es um Gottvertrauen, Nächstenliebe und Mut in Zeiten ohne Elektrizität und Autos.
- In der modernen Stadtbibliothek: "Ich zeige Ihnen ein tolles Buch" – wenn Christiane Lange das sagt, dann stimmt es. Die Donaueschinger Stadtbibliothek ist für sie einer der gern zitierten "Orte für Worte", ein Platz, "wo man sich physisch begegnen kann." Das tolle Buch ist in diesem Fall "Grimms Märchen ohne Worte" von Frank Flöthmann, das auf ganz überraschende Art zum Erzählen animiert. Es zeigt ein paar Märchen der Brüder Grimm als Bildgeschichten ohne Worte. Man sieht zwar, wie viele Zwerge zugange sind, was für eine Frisur Rapunzel hat oder wer wen frisst, aber alles muss man in eigene Worte fassen.
- In der historischen Altstadt: "Mir mond jetzt än Zackä zueleggä" – wenn es dem Nachtwächter Konrad mit seiner Hellebarde und der Hebamme Adelheid mit ihrem Korb fürs Nötige bei ihrer Stadtführung durch das alte Hüfingen nicht schnell genug geht, dann werden sie deutlich. Kurt Löhr und Heidi Mayer-Löhr haben nicht nur eine Vorliebe für bestimmte Aspekte der Stadtgeschichte oder für Sitten und Bräuche, sondern auch für Redewendungen. Am Gerberweg bei der Stadtmühle erzählen sie im heimatlichen Dialekt, wie einem "die Felle davonschwimmen" konnten und warum ein anderer ausgerechnet am Montag "blaugemacht" hat.
- Im profilierten Kurort: "Fräulein Schmidt aus Berlin zur Kur in Bad Dürrheim" – und das in den frühen 1920er-Jahren. Etwas gekünstelt darf es schon sein, wenn sich Martina Wiemer auf ihre beliebte Kostümführung begibt. Was sie erzählt, muss stimmen, aber sie macht für sich immer wieder diese schöne Erfahrung: "Lebende Figuren wecken Emotionen, machen neugierig auf Geschichte und berühren." Sie lässt ihre Gruppe sittsam "schön zu zweien laufen", erzählt von "gesalzenen Rechnungen", spricht im Flüsterton über Kommunisten, schimpft auf Salinendirektor Althaus und lobt dafür das Wirken von Luise von Baden.
- Im Museum für Gegenwartskunst: "Man bringt in sieben Minuten ein Thema auf die Bühne" – so umreißt Elias Raatz eine der Bedingungen, die ein Teilnehmer an einem Poetry-Slam erfüllen muss. Der aus Villingen-Schwenningen stammende Student ist selbst Slammer, er moderiert aber auch solche Wettbewerbe in Sachen Text und Poesie. Das Spektrum an Themen ist enorm und reicht von philosophischen Betrachtungen bis zu humoristischen Erzählungen. Schwierige Texte, zum Beispiel über Zukunftsängste, werden von den Autoren in der Regel mit Manuskript vorgetragen, unkompliziertere zuweilen frei erzählt.