Als Erce Sadik Ünal am frühen Abend des 14. Juni 2025 seine Eltern im Villinger Wohngebiet Steppach anruft, ist er so aufgelöst, dass er kaum sprechen kann. Der Grund: Seine Schwester Tugce Atik Ünal geht nicht ans Handy. Wieder und wieder hat er es versucht.

Angst um die Schwester

Er weiß, dass die 37-Jährige an diesem Tag in ihrer Firma Büroarbeiten erledigen will. 2022 hat Tugce Atik Ünal das Reinigungszentrum Heinzmann übernommen. Sie steckt all ihre Energie in den Betrieb in der Niederen Straße mit Lieferanteneingang in der Goldgrubengasse. Dass sie an einem Samstagnachmittag dort ist, ist nichts Ungewöhnliches.

Sieben Wochen nach dem Großbrand: Die Überreste der Gebäude in der Goldgrubengasse.
Sieben Wochen nach dem Großbrand: Die Überreste der Gebäude in der Goldgrubengasse. | Bild: Göbel, Nathalie

An jenem 14. Juni ist jedoch alles anders. Erce Sadik Ünal weiß zu diesem Zeitpunkt bereits, dass an der Rückseite des Gebäudes fünf Häuser in der Goldgrubengasse und in der Gerberstraße in Vollbrand stehen. Nur wenige Meter von dem Bereich in den Geschäftsräumen entfernt, wo sich seine Schwester einen Arbeitsplatz für die Buchhaltung eingerichtet hat.

Auf dem Boden sind noch die Spuren des Löschwassers zu sehen.
Auf dem Boden sind noch die Spuren des Löschwassers zu sehen. | Bild: Göbel, Nathalie

Die Eltern, die wenige Stockwerke unter ihrer Tochter im selben Hochhaus leben, können ihren Sohn beruhigen: Tugce ist bei ihnen, das Handy hat sie am Ladekabel in ihrer Wohnung vergessen. Der jungen Frau ist bei der Brandkatastrophe nichts geschehen.

Die Lüftung an der Gebäuderückseite ist durch die hohen Temperaturen geschmolzen. Rauch und Ruß zogen durch die Rohre ins Innere des ...
Die Lüftung an der Gebäuderückseite ist durch die hohen Temperaturen geschmolzen. Rauch und Ruß zogen durch die Rohre ins Innere des Gebäudes. | Bild: Göbel, Nathalie

Anders sieht es in ihrem Betrieb aus. Rauch, Hitze und Löschwasser haben in den 150 Quadratmeter großen Räumen der Reinigung erheblichen Schaden hinterlassen. Durch die Lüftungsanlage an der Rückseite des Gebäudes ist der Rauch aus der Goldgrubengasse direkt in die Betriebsräume gezogen.

Löschwasser ist durch das Mauerwerk eingedrungen. Das Gebäude musste stundenlang gekühlt werden, damit es die enorme Hitze das Gebäude nicht noch mehr schädigt.

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Versorgungslücken trotz guter Versicherung

„Alle unsere 19 Maschinen sind kaputt. Die Platinen haben das nicht überstanden“, sagt Tugce Atik Ünal. Zwar habe das Reinigungszentrum eine gute Inhalts- und Betriebsausfallversicherung. Dennoch gebe es massive Versorgungslücken, insbesondere bei manchen Folgeschäden.

Alle Maschinen waren intakt – bis zum Brand

„Ich wollte in den nächsten Jahren eigentlich nach und nach modernisieren“, sagt Tugce Atik Ünal. Dass alles auf einen Schlag ersetzt werden muss, war nicht eingeplant. „Die Maschinen liefen ja bis zum Brand alle noch und wurden regelmäßig von einer Fachfirma gewartet.“

Die Ruinen von der Goldgrubengasse aus gesehen.
Die Ruinen von der Goldgrubengasse aus gesehen. | Bild: Göbel, Nathalie

Hinzu kommt, dass beim Wiederaufbau die aktuellen Standards eingehalten werden müssen, was Mehrkosten durch Umbaumaßnahmen nach sich zieht: So dürfe beispielsweise die mit Kohlenwasserstoff betriebene Maschine nicht mehr wie bisher im Laden neben der Theke stehen, sondern muss im hinteren, für Kunden nicht zugänglichen Bereich aufgestellt werden.

Kreditaufnahme ist nicht möglich

Schon vor dem Brand habe sie viel Geld, Herzblut und Zeit in die Instandhaltung und Sicherheitsstandards der Firma investiert. Eine zusätzliche Kreditaufnahme sei derzeit weder tragbar noch möglich.

Deshalb ist Tugce Atik Ünal aktiv geworden: „Ich habe auf der Plattform Go fund me eine Spendenaktion ins Leben gerufen, damit wir so schnell wie möglich wieder in die Eigenproduktion gehen können.“

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Vier Wochen lang musste der Betrieb nach dem Brand ruhen. Für die junge Geschäftsfrau ein unerträglicher Zustand. „Unsere Reinigung ist mehr als Arbeit, sie ist Begegnung, Dankbarkeit, Dienstleistung und Menschlichkeit.“ Sie liebt die Begegnung mit Menschen und ihr kleines Team aus fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Rückkehr nach vier Wochen

Seit Mitte Juli hat das Reinigungszentrum nun wieder teilgeöffnet. In Sindelfingen hat Tugce Atik Ünal einen Geschäftspartner gefunden, sodass sie die Reinigung extern vornehmen lassen kann. In Sindelfingen wurde auch die Wäsche nachgereinigt, die sich zum Zeitpunkt des Feuers in der Reinigung befand.

„Ohne mein Team ginge es nicht.“ Tugce Atik Ünal (von links) mit ihren Kolleginnen Deniz Demasi und Ezgi Irmak.
„Ohne mein Team ginge es nicht.“ Tugce Atik Ünal (von links) mit ihren Kolleginnen Deniz Demasi und Ezgi Irmak. | Bild: Göbel, Nathalie

„In den ersten zehn Tagen bin ich allein 3500 Kilometer zwischen Villingen und Sindelfingen gependelt“, blickt Tugce Atik Ünal zurück. Für sie eine Selbstverständlichkeit. Ihren Kunden zuliebe.

Von der Apotheke in die Reinigung

Sie habe früh gelernt, dass sich Anstrengung lohnt. Aus einem engagierten Ferien- und Nebenjob in der Paradies-Apotheke wurde ein Ausbildungsplatz, anschließend arbeitete sie unter anderem in der Apotheke des Villinger Klinikums und zuletzt als Qualitätsbeauftragte in einer Arztpraxis.

Organisieren, sich kümmern – das liege ihr. „Ich bin die Königin der Excel-Tabellen“, sagt sie und lacht. „Mein Mann hat mal gesagt: Am liebsten hättest du doch auch unsere Hochzeitseinladungen in Excel erstellt.“

Die Familie als Vorbild

Ihre Eltern und Großeltern sind und waren ihre Vorbilder, die sie und ihre Brüder Ideale wie Dankbarkeit, Wertschätzung und Loyalität gelehrt hätten.

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Ihr Vater, der mit 16 Jahren aus der Türkei nach Deutschland kam, im Winkler-Bildungszentrum eine handwerkliche Grundausbildung absolvierte und sich später sowohl zum Industriemeister als auch zum technischen Betriebswirt weiterbildete. Ihre Mutter, die mit drei kleinen Kindern ihre Ausbildung abschloss und die seit Langem als beglaubigte Übersetzerin, unter anderem für die Polizei, tätig ist.

Kollegin, nicht Chefin

Mit diesem Rüstzeug hat die 37-Jährige in den vergangenen Jahren für ihren Betrieb Gas gegeben. Der Start sei nicht leicht gewesen. Gleich zu Beginn seien zwei Großkunden weggefallen, der Umsatz brach ein.

Auch deshalb haben sie optimiert, ein Jahr lang Listen über das Kundenaufkommen geführt, ausgewertet, die Öffnungszeiten angepasst. „Chefin“ mag sich Tugce Atik Ünal nicht nennen, „Kollegin“ ist ihr lieber. „Ich weiß genau: Ohne mein Team ging es nicht.“ Schon allein deshalb will sie nun so schnell wie möglich wieder auf die Beine kommen. Auch wenn der 14. Juni 2025 erst einmal alles verändert hat.