Eine halbe Minute ist schnell vorbei. Einen Espresso rauszulassen dauert ungefähr so lange, das Händewaschen oder ein Viertel der Zähne zu putzen. 30 Sekunden können sich aber auch verdammt lang anfühlen. Etwa, wenn man knapp 100 Stufen in einem Treppenhaus hochsprintet, wie ich es mit Verena Schmitz gemacht habe.
Wir sind im Konstanzer Stadtteil Paradies aber nicht in den vierten Stock gespurtet, weil der Aufzug defekt war, sondern weil die 35-Jährige dort trainiert. Und das mit großem Erfolg. Seit dem Wochenende darf sich die Sporttherapeutin und Personal Trainerin Deutsche Meisterin im Treppenhauslaufen nennen.
Redakteur Ingo Feiertag im Selbstversuch
Die 98 Stufen in ihrem Wohn- und Übungstreppenhaus sind ein Klacks im Vergleich zum erfolgreichen Wettkampf in Rottweil. 232 Höhenmeter und 1390 Stufen mussten die rund 1000 Starter beim 2. Thyssen-Krupp-Towerrun, dem laut Eigenwerbung „höchsten Treppenhauslauf Westeuropas“, erklimmen.
Nach Platz acht bei ihrer Premiere im Vorjahr (11,31 Minuten) sicherte sich Verena Schmitz nun den begehrten Pokal, der dem Aufzugtestturm nachempfunden ist, in dem gerannt wurde.
„Eigentlich habe ich mein Ziel ja verpasst“, sagt die Konstanzerin und lacht, „ich wollte eine Zehn-Minuten-Zeit erreichen.“ Sie war schneller und gewann in 9,42 Minuten – nur eine Sekunde vor der Zweitplatzierten. Insgesamt blieben lediglich vier Frauen unter der magischen Marke von 600 Sekunden.
„Irgendwie hätte ich vielleicht auch noch 50 Stufen mehr geschafft“, blickt Schmitz zurück. Ihr Resümee: „Es hat einfach alles gepasst an dem Tag.“
Kein Wunder, schließlich ernährt sich die 35-Jährige bewusst – „vegan und glutenfrei, das gibt mir Towerpower“ – und hat sich gezielt und akribisch auf die Schinderei im Schwarzwald vorbereitet. Ein ganzes Jahr lang. Zunächst integrierte sie eine Treppenhauseinheit in ihr wöchentliches Ausdauer-Trainingsprogramm, später dann zwei.
Ein praktischer Nebenaspekt: Da Verena Schmitz in einem mehrstöckigen Haus wohnt, begann die Übungsstrecke quasi vor der eigenen Tür. So spurtete sie vom Keller bis in den obersten Stock. 98 Stufen hoch in etwa 28 Sekunden. Anschließend mit dem Aufzug wieder runter. Und das 15 bis 25 Mal pro Einheit.
Der eine oder andere Nachbar habe schon mal irritiert geschaut und gefragt: „Warum machst du das?“, erinnert Schmitz sich. Mitmachen wollte jedoch niemand bei diesem Hobby, das für manch einen verrückt anmutet.
Auch der mentale Aspekt sollte nicht zu kurz kommen. „Vor dem Wettkampf hatte ich mir total viel überlegt, wie ich mich fokussieren kann. Was motiviert mich? An welches Lied denke ich?“, sagt Verena Schmitz über die Pläne, die schnell über den Haufen geworfen wurden. „Letztendlich habe ich die ganze Zeit gedacht: Weiter. Tempo halten. Weiter. Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich Stockwerk 8 gesehen habe, dann 24, dann 28.“
Eine Etage höher war die Konstanzerin, für die es nicht der letzte Treppenhauslauf gewesen ist, bereits im Ziel. Schon während des Rennens war ihr aufgefallen: „Mensch, mich überholt ja gar keiner.“ Mit dem Sieg hatte sie aber bis zuletzt nicht gerechnet. „Ich hatte gar keinen Überblick über die Zeit“, sagt Schmitz, „ich habe mich oben einfach auf die Matte gelegt. Dann habe ich auf der Anzeigetafel eine Zeit gesehen. 9,42 Minuten. Daneben stand mein Name.“ Da die Favoritinnen vor ihr gestartet waren, wusste sie, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit Deutsche Meisterin ist.
„Ich habe allergrößten Respekt vor allen Teilnehmern, vor allem vor den Feuerwehrleuten, die mit Montur in einer anderen Kategorie mitgelaufen sind“, sagt Schmitz, die sich bei den Organisatoren und allen Mithelfern bedanken möchte.
Die Belohnung waren für alle große Glücksgefühle in Rottweil. Dort, wo sonst Touristen mit dem Aufzug zu einer Aussichtsplattform nach oben rasen. In etwa 30 Sekunden. Auch ein mächtiges Treppenhaus kann man also in einer halben Minute erklimmen. Und das sogar ganz entspannt.