Es war die 37. Spielminute in einem bis dahin ganz normalen Fußballspiel der Kreisliga A-2. Weit in der Hälfte des FC Grenzach lag Kim Keser vom SV Schwörstadt am Boden, war verletzt. Aber keiner spielte den Ball raus, um die Behandlung zu ermöglichen. Und plötzlich lag die Kugel im Grenzacher Tor. Was danach passierte, an diesem 22. September 2007, auf der Sportanlage des 2013 in der SG Grenzach-Wyhlen aufgegangenen FC Grenzach, wissen zumindest die direkt Beteiligten ein Jahrzehnt später noch ziemlich genau.
Kurz danach fiel das berühmteste Eigentor des Bezirks Hochrhein durch Urs Keser. Ein Tor, über das damals nahezu rund um den Globus berichtet wurde. Aber wer war der Auslöser? War es Kim Keser, der sich behandeln lassen wollte? Oder sein Mannschaftskollege Turgay Demirci? „Kim lag am Boden, nahe der Eckfahne. Wir riefen den Grenzachern zu, dass sie den Ball raus spielen sollen. Doch das taten sie nicht“, erinnert sich der 38-jährige Turgay Demirci, der noch immer – oder besser – wieder beim SV Schwörstadt kickt: „Also habe ich einem Gegenspieler den Ball abgenommen und wollte einen Angriff starten.“ Jetzt aber hätten die Gastgeber lautstark gefordert, dass der Ball aus dem Feld gekickt wird. „Da wurde ich doch etwas ärgerlich und hab den Ball aus gut 40 Metern einfach nach vorn geschlagen.“
Nun kommt Alper Odabas ins Spiel, guter Bekannter von Demirci und sein Mitspieler in gemeinsamen Zeiten bei T.I.G. Rheinfelden: „Ich hatte natürlich damit gerechnet, dass einer den Ball raus spielt. Also war ich weit aus meinem Tor heraus gelaufen. Plötzlich aber schießt Turgay und der Ball fliegt aufs Tor. Ich rannte zurück – vergeblich!“
Im hohen Bogen senkte sich Demircis Schuss über Odabas ins Netz: „Ein tolles Tor – unhaltbar“, lacht Odabas noch zehn Jahre danach: „So ein Tor habe ich nie wieder geschossen“, grinst auch Demirci verschmitzt: „Dabei wollte ich den Ball ja gar nicht ins Tor schießen.“
Doch es war nun mal passiert. Schiedsrichter Ercan Avci aus Lörrach blieb nichts anderes übrig, als den Treffer zu werten. Der Ball lag im Netz und beim FC Grenzach die Nerven blank: „Da war plötzlich richtig Halligalli auf dem Platz“, erinnert sich Alper Odabas: „Wir hatten als Außenseiter immerhin mit 1:0 geführt und dann so etwas.“
Was nun aber passierte, bewegte die Gemüter noch Wochen und Monate später: „Ich habe sofort gespürt, dass ich jetzt reagieren muss. Die Grenzacher waren ja alle stehen geblieben, weil sie dachten, dass der Ball wegen der Verletzung ins Aus gespielt wird“, erinnert sich Urs Keser zehn Jahre später gut an diesen Moment: „Ich musste etwas tun, weil durch dieses verflixte Tor plötzlich Emotionen aufkamen.“ Also wartete der Spielertrainer nach dem Anstoß erst den Grenzacher Angriff ab. Der Ball landete neben dem Tor. Es gab Abstoß. Keser, der mit seinen damals 28 Jahren erst ein paar Wochen zuvor sein erstes Amt als Spielertrainer bei seinem Heimatverein übernommen hatte, ließ sich von seinem Torwart Daniel Brüggemann anspielen: „Dann habe ich den Ball einfach ins eigene Tor geschoben.
Aber ich bin überzeugt, dass das jeder in meiner Situation so gemacht hätte.“
Das glaubt Giuseppe Lanza, den alle Welt nur „Pippo“ nennt, nicht: „Das macht mit Sicherheit nicht jeder. Vor dieser Aktion ziehe ich heute noch den Hut“, betont der 50-Jährige, der damals den FC Grenzach trainierte: „Im ersten Moment war ich natürlich sauer, weil wir so den Ausgleich kassiert hatten. Als Urs Keser aber umgehend das Eigentor schoss, konnte ich das erst gar nicht glauben.“ Lanza war beeindruckt, dass „Keser so schnell reagierte und den Fairplay-Gedanken setzte.“ Für Lanza, heute Co-Trainer seines damaligen Spielers Giovanni Di Feo beim SV Nollingen, war dieses Eigentor etwas ganz Besonderes: „Ein toller Moment in meiner Fußballkarriere, den ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Urs Keser ist ein großartiger Typ.“
Der so gelobte Schwörstadter, seit Juli als Trainer bei Bezirksligist SpVgg. Brennet-Öflingen tätig, winkt ab: „Ich wollte einfach nicht auf diese Weise zum Erfolg kommen. Wir hatten ja noch genügend Zeit, das Spiel in Grenzach zu gewinnen. Leider verloren wir 2:3.“
Auch Alper Odabas mochte damals kaum glauben, was er auf dem Grenzacher Sportplatz zu sehen bekam: „Wir waren echt irritiert. Dass der gegnerische Trainer absichtlich ein Eigentor schießt, damit wir wieder führen. Das hätte ich im Traum nicht geglaubt“, ist der Torhüter zehn Jahre später noch beeindruckt: „Das war echt ein geiles Gefühl, dass Urs den Spielstand einfach so korrigiert.“ So etwas habe er zuvor und danach nicht mehr erlebt: „Wenn man 8:0 führt, macht man das vielleicht. Aber bei einem Rückstand? Hut ab!“
Vor allem, das betont Alper Odabas immer wieder, sei es ein hitziges Spiel gewesen: „Das Eigentor war schnell vergessen. Auf dem Platz ging es richtig zur Sache. Wir waren ja gerade erst aufgestiegen und die Schwörstadter hatten eine superstarke Mannschaft.“
Turgay Demici, der mit seiner Familie im Bad Säckinger Stadtteil Rippolingen lebt und nach seiner Übersiedelung mit der Familie aus der Türkei als Achtjähriger mit Urs Keser in Schwörstadt die Schulbank drückte, erinnert sich ebenfalls an die Brisanz des Spieles: „Ich wollte einfach nicht verlieren. Deshalb verstand ich im Eifer des Gefechts erst nicht, dass Urs so reagiert.“
Doch nach Spielschluss sah er ein, dass sein Trainer richtig gehandelt hatte: „Urs ist einfach so. Der würde das auch heute wieder so machen.“ Erstaunlich fand Demirci, mit wie viel Respekt er und sein Team danach behandelt wurden: „Wenn es brenzlig wurde, herrschte viel schneller Ruhe, als in den Spielen zuvor. Egal, wo wir hinkamen, wurde uns immer gratuliert. Für den Fußball und für unseren Verein war das Eigentor von Urs eine große Sache.“
Die Kunde von Kesers Eigentor machte schnell die Runde. SÜDKURIER-Regiosport Hochrhein berichtete noch am gleichen Abend auf seiner Internetseite darüber. Presseagenturen verbreiteten die Nachricht unseres Reporters Michael Neubert vom „Absichtlichen Eigentor in der Kreisliga“ weltweit. In Mexiko, Österreich, Ungarn und Rumänien wurde berichtet – in deutschen Medien ohnehin. „Anfangs habe ich das gar nicht richig mitbekommen, denn wir gönnten uns nach dem Spiel ein paar Tage Urlaub“, erinnert sich Keser: „Thorsten Szesniak hat mir dann eine SMS geschickt und mich informiert, was medial abging.“ Interview-Anfragen häuften sich bei Urs Keser in jenen Tagen. Das Fachmagazin „kicker“ und natürlich BILD berichteten über das kuriose Eigentor in der Kreisliga.
„Ich hätte nie gedacht, dass das eine so große Nummer werden würde. Aber bald verebbte das Thema“, war Urs Keser froh, dass Ruhe einkehrte. Bis er eines Tages von der Arbeit nach Hause kam und Debora Keser mit einem großen Umschlag an der Haustür stand: „Post aus Frankfurt für dich. Vom DFB!“
Eine Einladung nach Berlin, zum Länderspiel gegen England, am 19. November 2008 – natürlich nicht als Spieler, sondern als Ehrengast. „Stadtrundfahrt, Ehrung bei der Bundeskanzlerin, VIP-Lounge im Olympiastadion – das volle Programm und ein ganz besonderes Erlebnis“, blickt Keser auf die Fairplay-Auszeichnung der Jury zurück.
Noch ab und zu blättert Keser in den Alben mit Fotos und Berichten, die ihm Klaus Keser, damals Vorsitzender, und Peter Behringer vom SV Schwörstadt schenkten: „Dieses Tor und alles was danach passierte, werde ich nie vergessen“, sagt Urs Keser über sein denkwürdiges „Eigentor für die Ewigkeit“.