Die Schweiz hat Corona den Rücken gekehrt. Die Pandemie findet in der Alpenrepublik keine Beachtung mehr – der Bundesrat hatte schon im Frühjahr nahezu alle Regeln aufgehoben, Infizierte müssen dort längst nicht mehr in Isolation. Doch mit dem bevorstehenden Winter erwarten Experten erneut einen Anstieg der Infektionszahlen. Der Bundesrat aber wird keine nationalen Maßnahmen mehr verhängen. Stattdessen liegt die Entscheidung über etwaige Corona-Schutzmaßnahmen nun wieder bei den Kantonen.
Die grenznahen Kantone haben bislang bestenfalls Empfehlungen ausgesprochen. So ist es im Kanton Zürich nicht einmal in Krankenhäusern Pflicht, eine Maske zu tragen. Auch im Aargau wird auf die Eigenverantwortung verwiesen, Vorschriften gibt es keine. Im Thurgau finden sich Covid-Hinweise nur noch im Archiv. Der Kanton Basel-Stadt wirbt für die Auffrischungsimpfung – Hinweise auf Corona-Schutzmaßnahmen finden sich aber auch hier nicht.
Tatsächliche Infektionszahlen unklar
Derzeit liegt die 14-Tage-Inzidenz (die Schweiz berechnet die Inzidenz auf Basis dieser Frist) bei 828,3, das entspricht einer 7-Tage-Inzidenz von 249,6. Zum Vergleich: In Deutschland lag die 7-Tage-Inzidenz am Freitag bei 464,1.
Die Fallzahlen in der Schweiz sind indes wenig aussagekräftig. Anlass zum Testen gibt es nicht mehr, Infizierte müssen nicht mehr in Isolation. Wer Symptome hat, kann im Zweifel trotzdem einkaufen und zur Arbeit gehen. Dass die Zahlen wenig Rückschlüsse auf die aktuelle Corona-Lage im Land geben, zeigt auch ein Blick auf die Zahl der Neuinfektionen, die mit der Aufhebung aller Maßnahmen Ende März rapide sank.

Lag die Zahl der Neuninfektionen binnen einer Woche pro 100.000 Einwohner (Inzidenz) Mitte März noch über 2200, so war sie Mitte April unter 250 gesunken. Auch die Sommerwelle schlug sich in der Schweiz zahlenmäßig kaum nieder: Mitte Juli lag die Inzidenz im Höchststand bei durchschnittlich 645 Neuinfektionen.
Der Anteil positiv ausgefallener Tests kann Aufschluss über die tatsächliche Infektionsrate beziehungsweise die Dunkelziffer geben. In der Schweiz lag der Anteil Ende Oktober bei knapp 39,4 Prozent, in Deutschland dagegen bei über 52 Prozent. Beide Zahlen deuten aber darauf hin, dass die Fallzahlen deutlich höher liegen dürften.
Zahl der Todesfälle nimmt zu
Ein weiterer Hinweis auf die Lage: Ende Oktober lagen in der Schweiz 1270 Patienten mit Covid im Krankenhaus. Die Zahlen sind allerdings wegen Meldeverzugs und Meldelücken mit Vorsicht zu interpretieren, wie das Bundesamt für Gesundheit (BAG) vermerkt. Umgerechnet auf das zehnmal größere Deutschland entspräche dies etwa 12.700 Patienten, tatsächlich waren dort zum gleichen Zeitpunkt aber 23.617 Patienten mit Covid in den Kliniken in Behandlung.
Die durchschnittliche Belegung der Intensivstationen durch Covid-Patienten liegt in der Schweiz dagegen bei 9,3 Prozent, in Deutschland ist sie mit 8,5 Prozent etwas geringer. Auch haben Todesfälle im Zusammenhang mit Covid in der Schweiz stark zugenommen – im Vergleich zur Vorwoche sogar um 44 Prozent. 24 Menschen starben schweizweit binnen einer Woche. In Deutschland waren es im Oktober durchschnittlich 27 pro Woche – mit zehn Mal so vielen Einwohnern.
Wie sind diese unterschiedlichen Entwicklungen zu erklären? Der Schweizer Epidemiologe Andreas Cerny sagt: „Es gibt natürlich Unterschiede bei der Erfassung der Covid-Fälle“, schickt er voraus. „Aber es sind ähnliche Zahlen – wir sitzen alle im gleichen Boot.“ Die Differenzen sieht er in den sich zeitlich wie regional unterschiedlich ausbreitenden Infektionswellen. „In der Gesamtschau dürften die Zahlen der Hospitalisierungen und Todesfälle aber sehr ähnlich bleiben“, betont Cerny.
Da auch in Deutschland nur noch in wenigen Fällen eine Maske getragen werden muss, spiele auch das keine merkliche Rolle beim Infektionsgeschehen. Sinnvoll sei die Maske aber nach wie vor. „In der Schweiz funktioniert nur die Aufforderung zur Vorsicht und dem freiwilligen Tragen der Maske nicht so gut“, ergänzt Cerny.
Impfungen finden weniger Abnehmer
Umso wichtiger sei die Auffrischungsimpfung, die Cerny der gesamten Bevölkerung unabhängig vom Alter empfiehlt. „Bei den meisten liegt die letzte Impfung mehr als sechs Monate zurück, damit ist der Antikörperspiegel deutlich gesunken.“
Doch die Impfquoten sprechen dafür, dass die Schweizer wenig von der Auffrischungsimpfung halten. Zwar sind in der Alpenrepublik etwa 70 Prozent gegen Covid geimpft, in Deutschland sind es 76 Prozent. Doch nur wenige Schweizer haben eine Boosterimpfung in Anspruch genommen (knapp 48 Prozent) – im Vergleich zu den Bundesbürgern, bei denen die Quote über 62 Prozent beträgt.

Auch deshalb musste das BAG im Oktober eine massenweise Vernichtung von abgelaufenen Impfstoffen verkünden. Etwa neun Millionen Impfdosen müssen vernichtet werden. Bis Februar drohen weitere fünf Millionen Impfdosen zu verfallen.
Zum Vergleich: In Deutschland mussten bereits im Frühjahr vier Millionen Impfdosen vernichtet werden, im September wurde bekannt, dass mehr als 4,5 Millionen weitere Impfdosen verfallen sind.
Kliniken vor der Überforderung
Die Schweiz will dennoch auch den neuen Impfstoff für die Auffrischungsimpfung anbieten, die in der Alpenrepublik vor allem Menschen ab einem Alter von 65 Jahren oder mit chronischen Krankheiten empfohlen wird und frühestens vier Monate nach der letzten Impfung stattfinden soll. Die Empfehlung ähnelt der deutschen, hier gilt sie nur ab 60 statt ab 65 Jahren.
Cerny hofft auf eine hohe Impfbereitschaft. Auch weil die diesjährigen Grippeviren aggressiver auftreten als zuvor. Die Zahl der heftigen Verläufe bis hin zu Todesfällen liege deutlich höher als in den Vorjahren. Der Epidemiologe warnt: Kommt eine weitere Corona-Welle, könnte das die Schweizer Krankenhäuser überfordern.