Er hat sich schon dran gewöhnt, jemand zu sein, der geliebt worden ist. Vergangenheit. Davon handelt der bekannteste Song „Someone you loved“ von Lewis Capaldi. Doch der schottische Sänger wird heute noch immer geliebt. Vielleicht noch mehr als vor zwei Jahren, als er von einem Moment zum anderen völlig von der Bildfläche verschwand. Er hat sich dem Druck entzogen, ständig etwas Neues zu liefern. Nicht weil er wollte, sondern weil er musste.

Der heute 28-Jährige leidet am Tourette-Syndrom – eine Nervenkrankheit, die sich beispielsweise durch Zuckungen, Ticks oder spontane Ausrufe bemerkbar macht. Beim Glastonbury-Festival 2023 in England versagte Capaldi die Stimme, weil die Ticks so stark waren. Danach brach er seine Tour ab, auch ein Auftritt in St. Gallen fiel aus. Nun wurde er zum Überraschungsgast – und diese Überraschung ist mehr als gelungen.

Jeder zweite Mensch hat diesen Song gehört

Wer in den sozialen Netzwerken unterwegs war, konnte schon sehen, dass sich etwas tut bei dem Lieblingssänger, der innerhalb kurzer Zeit erstaunliche Erfolge erreicht hat. „Someone you loved“ ist der viertmeist gestreamte Song bei Spotify überhaupt und wurde seit Erscheinen 2019 rund vier Milliarden Mal angehört. Das heißt, dass durchschnittlich jeder zweite Mensch dieser Welt schon den Herzschmerz gehört – und vielleicht auch gefühlt – hat, den Capaldi da so eindringlich wiedergibt. Es war ein kometenhafter Aufstieg samt Auftritten auf den bekanntesten Bühnen und Netflix-Dokumentation. Dann zwei Jahre Stillstand.

Die Stimmung beim Openair St. Gallen ist ausgelassen – dank ungewohnt schönen Sonnentagen aber auch Überraschungsgast Lewis Capaldi.
Die Stimmung beim Openair St. Gallen ist ausgelassen – dank ungewohnt schönen Sonnentagen aber auch Überraschungsgast Lewis Capaldi. | Bild: Raphael Arndt

Bis Freitag, denn da teilte Capaldi ein Video mit dem Titel „It‘s been a while“ (deutsch: Es ist ein Weilchen her). Wenig später betrat er in Glastonbury die Bühne und verkündet „I‘m fucking back“ (deutsch: Ich bin verdammt nochmal zurück). Dafür erntet er nicht nur viel Aufmerksamkeit: 21,1 Millionen Mal wurde das Video innerhalb von zwei Tagen aufgerufen. Sondern auch viele Herzchen: 1,2 Millionen Menschen gefällt das. Wer hätte da ahnen können, dass der Schotte einen Tag später auch in der Schweiz auf der Bühne steht. Um 16.35 Uhr, ohne große Ankündigung, als Überraschungsgast.

„It‘s good to be back“

Ob die Leute einen guten Tag haben, will er wissen. Ja? Gut, denn ihm gehe es auch gut. „Me fucking too. It‘s good to be back.“ Er habe sich eine zweijährige Auszeit genommen, weil es ihm mental nicht gut gegangen sei. Doch nun sei er zurück und fühle sich besser als je zuvor. Dass er ausgerechnet St. Gallen für seinen zweiten Auftritt nach der Pause ausgewählt hat, ist kein Zufall: Nachdem er 2023 dort nicht auftreten konnte, sang die Menge seinen bekanntesten Song „Someone you loved“.

Das Video ging um die Welt und hat auch Capaldi erreicht. Das sei besonders gewesen und habe ihn berührt, erklärt er auf der Bühne. Deshalb habe er gesagt, er wolle nicht nur nach Glastonbury zurückkehren, sondern auch in St. Gallen auftreten.

Neuer Song handelt von den schweren Zeiten

Und der Auftritt selbst? Als wäre der 28-Jährige nie weg gewesen. Mit alten Liedern, die alle lieben und selbst ohne Vorbereitung mitsingen können. Und mit dem neuen Song „Survive“, der von den schweren Zeiten der vergangenen zwei Jahren handelt. „Most nights, I fear / That I‘m not enough“, heißt es da. Also, dass er in den meisten Nächten fürchtet, nicht gut genug zu sein. Ein Thema, das immer wieder in seinen Songs zu hören ist. Doch im neuesten heißt es auch kämpferisch: Er schwöre zu Gott, dass er überleben werde. Denn er habe noch viel zu geben. Ein starkes Bekenntnis in Zeiten, wo Menschen wie er dazu beitragen, dass mentale Gesundheit kein Tabuthema mehr ist.

Der Sittertobel ist voller Menschen, die die Musik feiern – und vielleicht auch das Leben und sich selbst.
Der Sittertobel ist voller Menschen, die die Musik feiern – und vielleicht auch das Leben und sich selbst. | Bild: Isabelle Arndt

Der Rückhalt seiner Fans ist Lewis Capaldi sicher: Selten sind beim Openair St. Gallen so viele Hände in der Luft zu sehen, die mitwippen oder zu einem Herz geformt sind – und das in der prallen Mittagshitze, denn in diesem Jahr hat Schlammgallen diesen Spitznamen so gar nicht verdient. Schnell hat sich am Samstagnachmittag herumgesprochen, wer da überraschend auf der Bühne steht, und schnell hat sich der Platz vor der Hauptbühne Sittertobel gefüllt.

Nach etwa 30 Minuten ist der Zauber vorbei. Ohne Aussetzer, nur mit Stimme, Stimmung. Herzschmerz. Weltschmerz. Und Freude darüber, dass Lewis Capaldi verdammt nochmal zurück ist. Und überlebt.

Henning May ist einer von drei Namensgebern der Band Annenmaykantereit und bekannt für seine überraschend tiefe Stimme.
Henning May ist einer von drei Namensgebern der Band Annenmaykantereit und bekannt für seine überraschend tiefe Stimme. | Bild: Isabelle Arndt

Wer noch da war: Annenmaykantereit, Kraftklub, Ski Aggu

Annenmaykantereit spielen dieses Jahr nur vier Konzerte – eins war beim Southside eine Woche zuvor, das letzte ist in St. Gallen. Dabei gibt sich Sänger Henning May bescheiden: „Danke für die Lichter und Feuerzeuge. Und danke, dass wir hier unsere Lieder spielen durften.“ Die Band war schon 2015, 2016 und 2022 im Sittertobel und begeistert als Headliner einmal mehr – besonders, wenn der Frontsänger unverschämt charmant fragt, ob man mit ihm ausgehen möchte. Da würden sicher sehr viele im Publikum Ja sagen.

Kraftklub ist beim Openair St. Gallen viel mehr als ein Lückenbüßer für „Kings of Leon“, die ihren Auftritt abgesagt haben.
Kraftklub ist beim Openair St. Gallen viel mehr als ein Lückenbüßer für „Kings of Leon“, die ihren Auftritt abgesagt haben. | Bild: Raphael Arndt

Kraftklub standen eigentlich nicht im Line-up, sind aber mit etwas Vorlauf für „Kings of Leon“ eingesprungen. Die Band mit K aus Chemnitz ist ein würdiger Vertreter und kennt das Festival bestens, war zuletzt 2023 da. Am Freitagabend stimmen sie auch einen bekannten Akkord der „Kings of Leon“ an – doch die ausgelassene Stimmung der Fans lässt keinen Zweifel daran, dass sie nicht nur ein Lückenfüller sind. Eine Ankündigung für ihr neues Album im November hatten sie auch dabei: Wenig dezent schwebt neben der Bühne ein Schriftzug „Sterben in Karl-Marx-Stadt“.

Ski Aggu ist nie ohne Skibrille zu sehen.
Ski Aggu ist nie ohne Skibrille zu sehen. | Bild: Raphael Arndt

Ski Aggu ist mit seiner Mischung aus Techno und Rap ein Phänomen, das nicht jeder versteht. Der Berliner begeisterte in St. Gallen auch mit seinem Schwiezerdütsch und verwandelte den Sittertobel in einen gemeinsam Freudentaumel gemäß den Zeilen „We make Party until the Doktor comes“. „Eine kranke Crowd“, attestiert der Deutsche, der stets mit Skimaske auftritt – auch bei 30 Grad Celsius.