Die meisten Sehenswürdigkeiten dieser Welt sind im Internet jederzeit abrufbar. Und doch wird fleißig weiter fotografiert: 3,2 Milliarden Mal macht es auf unserem Planeten Klick. Und zwar nicht etwa jedes Jahr oder jeden Monat. Nein, jeden Tag. Innerhalb von nur 60 Stunden hat rein rechnerisch jeder Mensch auf der Erde ein Foto gemacht.
Kein Zweifel: Offensichtlich berührt das Fotografieren grundlegende Dimensionen unseres Menschseins. Was ist es, das uns zur Kamera greifen lässt?
Den Augenblick festhalten
Die Zeit anzuhalten, ist ein uralter Menschheitstraum. „Verweile doch, du bist so schön“, lässt Goethe seinen Faust sagen, und für die Erfüllung des Wunsches wäre Faust bereit, mit dem Leben zu bezahlen. Weder hat Goethe die Magie des Augenblicks als Erster erkannt, noch hat die Fotografie das Sehnen nach der Unvergänglichkeit tatsächlich ersetzen können.
Und dennoch hat sie die Kraft der ihr innewohnenden Verheißung behalten. Weil wir den Ausschnitt einer tausendstel Sekunde festhalten, die Zeit in schmalere Scheiben teilen können, als es unser Sehorgan vermag.
Einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit auswählen
Aus der 360-Grad-Welt um uns herum wollen wir uns einen Teil aussuchen. Wir wählen, eingeengt durch technische Bedingungen oder ermächtigt durch die Wahl einer bestimmten Optik, einen Bildwinkel. Er mag opulent und weit sein oder konzentriert und eng.
Aber er wird stets eine Abkehr vom Ganzen sein – eine bewusste Entscheidung, die sich nicht nur aus dem Bild-, sondern auch aus dem Blickwinkel herausbildet. Wir richten die Kamera eben nicht irgendwo hin, sondern auf etwas, das uns wichtig ist. Wir trennen das, was uns in dem Moment etwas sagt, von der Belanglosigkeit um das Motiv herum.
In die Tiefe gehen
Die Beschäftigung mit der Kamera stößt neben der Zeit, der Breite und der Höhe auch in eine weitere Dimension vor. Wir fotografieren, weil wir in die Tiefe gehen wollen. Erst die Optik im Verständnis der Moderne hat die Idee einer räumlichen Schärfeebene zu uns gebracht. Zur oft verwirrenden Alles-Perspektive tritt das Modell der konzentrierten, selektiven Tiefenschärfe.
Was das menschliche Auge nicht zu leisten vermag, stellt uns das Objektiv an der Kamera bereit: Die Möglichkeit, das Unwichtige in die Unschärfe zu stellen und das Wichtige auch in der Tiefe des Raums hervorzuheben, bietet eine weitere Chance, um eine Auswahl zu treffen.
Einen Prozess beherrschen
Besonderen Zauber erleben bis heute diejenigen, die beim Fotografieren alle Schritte selbst unternehmen. Von der Belichtung eines Bilds über das Entwickeln des Films, das Anfertigen eines Papierabzugs, bis zum ersten Aus-der-Hand-geben des Ergebnisses, zum ersten Gespräch darüber, zur ersten Reaktion des Betrachters. Die analoge Fotografie wird schon allein aus diesem Grund nicht aussterben.
Allerdings kann auch die digitale Technologie das menschliche Bedürfnis nach dem Prozesshaften befriedigen. Bei ihr geht es um das Entwickeln im übertragenen Sinn: um das Herausbilden von Erfahrung und Wissen, um das Zusammenführen von Talent und Handwerk. In einer chaotischen Welt mit einer unübersehbaren Anzahl von Zustandsänderungen bringen Prozesse Struktur ins Dasein.
Sich mitteilen
Manchmal ist es Selbstzweck, wenn wir unser Befinden im Bild spiegeln. Manchmal ergibt es sich, ohne dass ein Plan dahinter liegt. Und manchmal stellen wir unsere Fähigkeiten in den Dienst des Mitteilungsdrangs anderer.
Dann ist der Widerpart des Betrachters nicht der Fotograf, sondern der oder das Abgebildete. Ein Mensch, aber vielleicht auch eine Ansicht, ein Stück Natur oder ein Stück menschengemachte Wirklichkeit. Oder ein Moment der Unwirklichkeit, der beim Betrachten eines Bilds spürbar wird.
Etwas Ästhetisches erschaffen
Wenn die Idee der Kommunikation und der Vorgang des Teilens dem Fotografieren eingeschrieben ist, dann gehört die andere Seite zwingend auch dazu. Es ist der Moment der Selbstvergewisserung und des Behaltens: Wir fotografieren auch, weil wir für uns etwas Ästhetisches schaffen wollen. Viele Bilder verlassen den Wahrnehmungskreis ihrer Erschaffer nie.
Dennoch stellen wir unser Tun in den Kontext dessen, was andere geschaffen haben. Wir dürfen, wir müssen urteilen, eigene Maßstäbe entwickeln sowie deren Veränderung gestalten und erleben. Und gerade in dieser Ausbildung eines ästhetischen Systems steckt wieder eine zeitliche Dimension.
Die Vielzahl der Zehntel-, Hundertstel- und Tausendstelsekunden konstituiert über die Monate, Jahre und Generationen ein Ganzes, das nicht nur viel länger ist als die Summe seiner Teile, sondern auch sehr viel dichter. Fotografierend gestalten wir unser Leben und damit uns selbst, indem wir nach dem Schönen, dem Interessanten, dem Neuen, dem Bedeutsamen streben.

Wie wirkmächtig die Welt der Fotografie ist, zeigt allein unsere Sprache. Wir reden von Momentaufnahme, Perspektive und Blickwinkel, und die Fokussierung ist zu einer mächtigen Metapher unserer Zeit geworden. Wir machen uns gern ein Bild von etwas und begeben uns damit in die Übergangszone zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit.
Diese Wirkmacht und dieser Zauber der Bilder sind eine Verheißung – eingeschrieben in unser menschliches Wesen. Fotografieren ist ein Teil dessen, was wir als das Wesentliche verstehen können. Ein Weg hin zu dieser Verheißung in all ihren Dimensionen und Vernetzungen ist das Fotografieren. Es ist sicher nicht der einzige Weg – aber ein besonders schöner.
Der Autor
- Jörg-Peter Rau kam 1989 als Schüler mit einer gebraucht erworbenen Kamera und zwei Schwarzweißfilmen in die Friedrichshafener Lokalredaktion des SÜDKURIER und wollte Reporter werden. Seither wurden zahlreiche Bilder von ihm in verschiedenen Medien veröffentlicht. Er studierte Kunstgeschichte, ist inzwischen Mitglied der Chefredaktion des SÜDKURIER und geht fast nie ohne Kamera raus.
- Dieser Text ist ein Auszug aus einer Rede, die Rau zur Eröffnung der ersten auf Fotografie spezialisierten Galerie in Konstanz hielt. Die Leica Galerie gehört zum Leica Store (Gerichtsgasse 9) und zeigt bis zum 17. August 2019 Porträts des renommierten Fotografen Anatol Kotte.