Mr. Boyle, Ihr jüngster auf Deutsch erschienener Roman, „Die Terranauten“, spielt auf ein Experiment an, das Anfang der 90er-Jahre in den USA stattgefunden hat. Damals lebten acht Menschen unter einer Glaskuppel in einer künstlichen Biosphäre. Angeblich diente das dem wissenschaftlichen Fortschritt.
Nicht nur angeblich: Die Bewohner der „Biosphäre 2“ haben damals durchaus versucht, Wissenschaft zu betreiben. Allerdings war es keine aufrichtige Wissenschaft. Denn aufrichtige Wissenschaft würde bedeuten: Wir haben eine Theorie, also lasst sie uns überprüfen! Doch sie hatten keine Theorie. Sie wollten einfach nur ausprobieren, ob sie eine zweite Biosphäre erschaffen können, die unabhängig von unserer ersten funktioniert.
Sie konnten es nicht.
Nein. Eine Teilnehmerin musste wegen eines Unfalls schon nach zwölf Tagen die Glaskuppel verlassen, um ins Krankenhaus gebracht zu werden. Wie sollte also so eine künstliche Welt etwa auf dem Mars funktionieren? Da gibt es keine Krankenhäuser!
In Ihrem Roman können wir nicht nur beobachten, wie unmöglich es scheint, eine solche zweite Biosphäre zu kreieren. Wir sehen auch, wie egoistisch und planlos wir uns in einer solche Biosphäre verhalten würden. Sind wir Menschen vielleicht einfach zu dumm, um dauerhaft zu überleben?
Ich möchte dem nicht widersprechen. Als Roman-Autor wundere ich mich aber vor allem darüber, wie leichtfertig viele Menschen glauben, ein solches Leben unter einer Glaskuppel führen zu können. Dabei wissen wir doch von Wissenschaftlern, die mehrere Monate auf Forschungsstationen in der Antarktis verbracht haben, welch enorme psychische Belastung so etwas mit sich bringt! In dem Zusammenhang fällt mir übrigens etwas Lustiges ein.
Nämlich?
Als das Buch in Amerika erschienen ist, fragten mich viele Journalisten: „Herr Boyle, haben wir Sie richtig verstanden, dass Sie auch gerne mal unter so einer Glaskuppel leben würden?“ Die waren überrascht, als ich antwortete, dass das mein absoluter Albtraum wäre!
Wo leben Sie denn tatsächlich?
Ich brauche so viel Berührung mit der Natur wie nur möglich. Jede freie Minute verbringe ich in den kalifornischen Bergen. Dort steht auch mein Haus, in dem ich täglich arbeite. Nach der Arbeit geht es immer in die Einsamkeit des Waldes. Dann lese ich ein Buch, lege mich in die Sonne oder wandere. Aber ich spreche mit keiner Menschenseele.
Dabei gelten Sie doch als ausgesprochen kontaktfreudiger Autor!
Ja, das ist meine andere Seite. Ich mag Menschen, aber ich brauche auch die tiefe Beziehung zur Natur. Ich erzähle Ihnen dazu mal was!
Nur zu!
Als meine Kinder noch kleiner waren und zur Schule gingen, war ich tagsüber oft ganz alleine zu Hause. Entweder schrieb ich, oder ich lief durch die Wälder, es war herrlich. Einmal im Mai gab es einen Feiertag, und ich nörgelte schon morgens vor mich hin: Jetzt kommen wahrscheinlich wieder alle möglichen Leute zum Ausflug in die Berge! Trotzdem wollte ich es mir nicht nehmen lassen, zu einem meiner Lieblings-Wasserfälle zu wandern. Auf dem Weg dorthin musste ich ein Stück auf einer Straße entlanggehen. Da hörte ich plötzlich von unten ein Auto kommen. Raten Sie mal, was ich tat!
Sie drehten sich um?
Ich stürzte mich wie von Sinnen ins Gebüsch! So ergeht es mir, wenn mich so etwas Fremdes wie ein Auto in meiner Einsamkeit da oben stört!
In Ihren Romanen gibt es keine Büsche, in denen Menschen Schutz finden könnten. Die Aussichten sind oft düster.
Ich bin in der Tat der Meinung, dass die Zukunft für unsere Spezies schlecht aussieht. Dabei denke ich an die globale Erwärmung, aber auch an die Flüchtlingskrise, die durch diese Erwärmung ja wesentlich verursacht wird. Es wird nicht mehr lange dauern, dann ist Bangladesch überflutet. Wohin sollen all die dort wohnenden Menschen gehen? Das wird der reinste Horror für uns alle!
Wie wollen Sie Ihren Kindern bei so deprimierenden Prognosen noch Zuversicht und Lebensmut vermitteln?
Meine Kinder haben das ungeheure Privileg, in einer westlichen demokratischen Gesellschaft aufzuwachsen, sie dürfen sich frei äußern, haben genügend zu essen, saubere Luft und sauberes Wasser. Mir als Vater bleibt nichts, als ihnen für die Zukunft viel Glück zu wünschen. Aber ganz ehrlich: Gut sieht das nicht aus.
Warum genau schreiben Sie eigentlich immer wieder über diese schlechten Aussichten: Weil man im Untergangs-Szenario den Menschen besser kennenlernt als in einer heilen Welt? Oder weil Sie insgeheim hoffen, mit Ihren Romanen etwas verändern zu können?
Ich hätte zwar nichts dagegen, wenn Letzteres zutreffen sollte. Allerdings treibt mich nichts von alledem wirklich an. Ich bin Künstler, und als solcher gelingt mir tiefes Nachdenken überhaupt nur über die Kunst. Als ich an meinen Roman „Wenn das Schlachten vorbei ist“ gearbeitet habe (erschienen 2011, Anmerkung der Redaktion), traf ich mich mehrfach mit Biologen. Sie sagten mir: „Wir Biologen können nur deprimierende Vorträge halten und Aufsätze schreiben. Du aber gibst diesen Vorträgen eine Geschichte. Damit kannst du eine viel stärkere Botschaft aussenden als wir!“ Ich musste ihnen dann immer erklären, dass ich es gar nicht als meine Aufgabe verstehe, Botschaften auszusenden.
Sondern?
Meine Aufgabe ist es, künstlerisch zu ergründen, wie unsere Spezies hier und heute lebt und was ich dabei empfinde. Warum sind wir hier? Gibt es Gott? Warum müssen wir sterben? Warum sind Wissenschaft und Religion gleichermaßen Voodoo? Warum hat niemand die Antwort? Von all diesen Fragen handelt übrigens auch mein neuestes Buch „The Relive Box“, das noch gar nicht auf Deutsch erschienen ist. Da schreibe ich über die Crispr/Cas9-Technologie: ein neues Verfahren, das es uns auf sehr einfache Weise erlaubt, transgenetische Lebewesen zu produzieren. Der Lachs erhält zwei Gene von einem anderen Fisch und noch eines von einem dritten – schon wächst er doppelt so schnell!
Welche Gefahr sehen Sie in dieser Entwicklung?
Zum Beispiel, dass wir schon bald nicht nur Lachse, sondern auch uns Menschen auf diese Weise unumkehrbar verändern. Die Wissenschaft erzählt uns zwar noch, das werde nie passieren. Aber wir wissen doch längst, welches Gen wir zerstören müssten, um den Brustkrebs ein für allemal zu besiegen. Es ist deshalb nur eine Frage der Zeit, bis dieses Wissen auch angewendet wird.
Ihr Präsident, Donald Trump, bezeichnet den Klimawandel als eine Erfindung der Chinesen. Ich möchte Sie jetzt nicht fragen, ob Sie ihm darin zustimmen …
(lacht) … Wahrscheinlich haben Sie schon eine Idee, wie meine Antwort ausfallen könnte!
Weniger vorhersehbar ist, ob Sie es für möglich halten, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
Nein, keine Chance. Er ist auf katastrophale Weise ungebildet und unqualifiziert. Zurzeit wird Amerika von Unternehmen kontrolliert, die sich nur um ihren Profit scheren. Trump können wir irgendwann loswerden. Ob wir aber auch diese Unternehmen loswerden können, scheint mir fraglich. Das ist alles eine einzige Katastrophe und zwar nicht nur für Amerika, sondern für die ganze Welt. Allein die aktuelle Umweltpolitik wirft uns um hundert Jahre zurück. Wenn ich morgens die Zeitung lese, weine ich erst zehn Minuten – und mache mich dann an die Arbeit.
Eine bittere Arbeit also?
Nein, schon eine freudvolle. Meine Freude beziehe ich aus der Natur und aus der Kunst. Um noch mal auf das mit der Botschaft zurückzukommen: Ich beeinflusse mein Publikum auf diese Weise wohl tatsächlich. Das merke ich immer dann, wenn mir Leser erklären, sie hätten durch die Lektüre meines Romans ihre Meinung geändert. Dann antworte ich: Wunderbar, hallelujah! Aber eigentlich war das gar nicht meine Absicht, denn ich wollte ja nur Kunst machen! Kunst, die versucht, deine Meinung zu ändern, erklärt sich damit zugleich bankrott.
Der Schriftsteller Martin Walser – er wohnt übrigens hier am Bodensee – liebt erklärtermaßen alle seine Figuren. Ergeht es Ihnen ähnlich?
Alle Figuren kommen aus mir selbst und ich brauche sie, wie ich die Sprache brauche. Ob ich sie auch liebe? Wie sieht es denn mit einem Maler aus, der ein Gruppenbild entwirft? Liebt er diese Figuren? Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. Es sind wohl einfach nur Figuren in einer Szene, so wie meine Figuren Teile einer Handlung sind.
Sie haben einmal das Schreiben als Ihre Droge bezeichnet. Leiden Sie auch unter dieser Droge?
Oh ja! Ich weiß am Anfang nie, wie sich eine Geschichte entwickeln wird. Es ist immer möglich, dass ich mit ihr scheitere.
Passiert das auch?
Nein, nie. Aber immer wieder fast. Wenn Sie irgendwann das Ende finden, ist es wie ein Rausch. Das geht durch den ganzen Körper, ein unglaubliches Gefühl! Aber wie bei einer Droge fühlen sie sich danach wieder schwach und sehnen sich nach diesem Rausch zurück – wieder und wieder! Das ist durchaus ein Leiden. Und trotzdem: Künstler sein zu dürfen, das ist ein großes Glück.
Zur Person
T. C. Boyle (eigentlich Thomas Coraghessan Boyle) wurde 1948 im US-Bundesstaat New York geboren. Er gilt als einer der wichtigsten und produktivsten Erzähler in seiner Heimat. In jungen Jahren ein Herumtreiber und Punk, wurde schon sein erstes Buch „Tod durch Ertrinken“ (1979) ein Erfolg. Seither hat Boyle 16 Romane und rund 100 Kurzgeschichten geschrieben, unter anderem „Wassermusik“, „Willkommen in Well-ville“ und „Dr. Sex“.