Ein Bekannter wollte unlängst ein Huhn in Salzkruste à la Paul Bocuse kochen. Dafür braucht man ein Bresse-Huhn und kiloweise Meersalz. Als er Letzteres in der Auslage eines Feinkostladens entdeckte, ging er hinein und fragte, ob man denn vier, fünf Kilo davon habe. Daraufhin sah ihn der Verkäufer verblüfft an und meinte: „Warum? Wollen Sie ein Meer eröffnen?“

Der echte Franzobel. Das Foto diente der KI als Vorlage für die verschiedenen Porträts im Stil unterschiedlicher Maler.
Der echte Franzobel. Das Foto diente der KI als Vorlage für die verschiedenen Porträts im Stil unterschiedlicher Maler. | Bild: Arne Dedert/dpa

Ein Meer ganz anderer Natur ist in den letzten Jahrzehnten über die Welt geschwappt, ein Meer an Daten und neuen Möglichkeiten. Vor vierzig Jahren war es unvorstellbar, online einzukaufen. Autos besaßen keine Navis, dafür quollen Landkarten aus dem Handschuhfach, man unterhielt sich über das Fernsehprogramm, und ein vierundzwanzigbändiges Lexikon gehörte zur Grundausstattung jedes Haushalts.

Dann hat das Internet mit rasanter Geschwindigkeit die Welt zu einem Dorf gemacht, in dem jeder jederzeit alles über alle wissen kann. Die neue Technologie verändert alles, auch die Kunst. Ohne Erfindung der Fotografie wäre kein Impressionismus entstanden und keine daraus resultierende Moderne. Radio und Tonträger haben dem Live-Erlebnis der Musik die Einzigartigkeit genommen, und auch die Literatur hat sich dank neuer Textverarbeitungsprogramme massiv verändert.

So hätte Salvador Dalì Franzobel gemalt – zumindest nach Meinung unserer KI.
So hätte Salvador Dalì Franzobel gemalt – zumindest nach Meinung unserer KI. | Bild: mit midjourney generiert/Steller, Jessica

Gegenwärtig stehen wir mit der Künstlichen Intelligenz an einer nächsten Schwelle. Bald können Maschinen Bilder malen, die als Rubens oder Bacon durchgehen, sie können Beethovens zehnte Sinfonie vollenden, einen Stephen King schreiben oder ein Foto vom Papst generieren, wo der Heilige Vater auf der Kuppel des Petersdoms in Unterhosen einen Handstand macht und Hostien auf der Nase balanciert. Bedeutet dies das Ende aller Gewissheit, wo wir nicht mehr wissen, was wirklich geschehen ist, was künstlich generiert? Ist damit auch alle menschengefertigte Kunst obsolet?

Kunst ist eben nicht perfekt

Kunst verleiht den Dingen Bedeutung, sie kann unterhalten und als gesellschaftliches Korrektiv fungieren. Der Künstler ist Schamane wie Hofnarr. Man attestiert ihm wenn schon nicht Genialität so doch ein Sensorium für aktuelle Entwicklungen. Kann das je von einer Maschine ersetzt werden? Natürlich nicht, möchte man beruhigen. Künstliche Kunst ist zwar irgendwann besser und effizienter als menschliche, aber gerade Kunst ist nicht ausrechenbar, wird erst dann zum Erlebnis, wenn sie Fehler und Leerstellen hat, brüchig ist und unperfekt. Eine Maschine kann Bachs Goldbergvariationen fehlerlos spielen, aber das wird uns niemals so ergreifen wie Glenn Gould – hoffe ich zumindest.

Der menschliche Faktor fehlt

Effizienz geht immer auf Kosten der Zwischentöne und Nuancen, ja, auf Kosten der Menschlichkeit. Selbst wenn es uns bei den Erzeugnissen der KI bald die Zehen aufrollt, wird ihr der menschliche Faktor fehlen. Ein Künstler hat eine Biografie, mit der man sich identifizieren kann. Wenn ich einen echten Picasso sehe, weiß ich, dass der Meister leibhaftig davorgesessen ist. Bei einem Geigenvirtuosen erahne ich die Abgründe seiner Seele, ihre Wunden.

Was Picasso wohl zu dieser Stil-Kopie sagen würde?
Was Picasso wohl zu dieser Stil-Kopie sagen würde? | Bild: mit midjourney generiert/Jessica Steller

Unsere Vorstellung von Kunst ist verknüpft mit der sakralen Aura von etwas Echtem, Authentischem. Wir wollen die gleiche Luft der Schöpfer atmen, ihre DNA spüren. Nachbildungen wie zum Beispiel Hallstatt in China oder eine Sphinx im Vergnügungspark empfinden wir als kitschig, lächerlich. Chinesen offensichtlich nicht. Nein, das stimmt so nicht. Die meisten Chinesen haben keine Wahl, schlechte Lebensbedingungen, die eine Reise zum Original nicht zulassen, weshalb sie sich mit dem Duplikat zufriedengeben müssen.

Aber ist die Anbetung des Echten nicht ein Aberglaube? In der frühen Neuzeit wurden vom Henker Locken der Exekutierten als Glücksbringer verkauft, dem Blut von Geköpften schrieb man Heilkräfte gegen Epilepsie zu, im 19. Jahrhundert hat ein späterer Ministerpräsident Spaniens der ausgestellten Leiche Kaiser Karls des Fünften einen kleinen Finger ausgerissen. Allerlei Körperteile von Berühmtheiten geistern durch skurrile Sammlungen: Schillers Schädel, Napoleons Penis, Einsteins Hirn.

Zur Kreativität ist KI nicht fähig

So etwas gibt es von Computern nicht. Noch ist die KI nicht fähig, kreativ zu sein. Sie kann Wetterphänomene und Börsenkurse prognostizieren, Kunststile kopieren, aber etwas genuin Neues erschaffen kann sie nicht. Sie kreiert keine neuen Erfahrungen, sondern rechnet Wahrscheinlichkeiten aus. Die KI versteht keine Ironie, keinen Humor, weshalb sie einen Satz wie den eingangs zitierten „Wollen Sie ein Meer eröffnen“ auch nicht so schnell ausspucken wird. „Wollen Sie ein Meer eröffnen“ ist ein schönes Beispiel für den österreichischen Schmäh, der bereits in Deutschland kaum verstanden wird und praktisch nicht zu übersetzen ist. Der Witz würde mit keinem anderen Verb funktionieren.

Fehlermeldung statt Zimmerkarte

Die neue Welt ist humorlos. Wo es geht, werden Menschen eingespart. Selbstfahrende Busse, vollautomatisierte Supermarktkassen und bei Hotlines von Fluglinien einen echten Menschen zu erwischen, gleicht einem Lotteriegewinn. Unlängst war ich in einem Hotel in Leipzig untergebracht. Zum Einchecken gab es vollautomatisierte Terminals. Nach einer endlosen Prozedur kam aber keine Zimmerkarte, sondern eine Fehlermeldung. Dem überforderten Nachtportier – es war kurz vor Mitternacht und ich hundemüde – fehlte das Passwort, um sein abgestürztes Computersystem neu zu starten. Die Telefone seiner Kollegen wurden nicht abgenommen, er hat auf Sächsisch gejammert und geflucht: „Eiverbisch nochemal. Gänsefleisch ran? Wie erreiche ich jetzt die Schnarchhoken?“

Letztlich dauerte es zwei Stunden, bis ich in das Zimmer konnte. Früher, im technologischen Paläolithikum, als es noch richtige Schlüssel mit schweren Messinganhängern und weinroten Kordeln gegeben hat, hätte der Vorgang keine fünf Minuten gedauert. Die Welt wird unpersönlicher und würdeloser, weil alles nur noch dazu angelegt ist, effizient zu sein. Bei den Inuit heißt es, man darf am Lauf der Welt zwar teilhaben, ihn jedoch nicht verändern. Aber genau das machen wir. Für Inuit und andere Naturvölker eine schwere Sünde.

Profitgier treibt den Menschen

Die Skepsis vor dem Fortschritt ist so alt wie die Menschheit selbst. Bestimmt gab es schon bei der Erfindung des Rads Skeptiker, die eine unmittelbare Degeneration des homo rotatus befürchteten. Der von Profitgier getriebene Mensch ist selten gewillt, den Fortschritt zum Wohle aller zu nutzen. Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum manche Bahnhöfe kilometerweit vom Stadtkern entfernt sind? Weil man mit expansivem Wachstum gerechnet hat? Nein, weil es im 19. Jahrhundert Fuhrwerksunternehmer gegeben hat, die aus Angst um ihr Geschäft den Leuten eingeredet haben, dass die funkensprühende Eisenbahn Brände verursache. In Amerika gibt es kaum noch Züge oder Straßenbahnen, weil Automobilkonzerne ganze Strecken aufgekauft und – besonders perfide – verfallen lassen haben, damit sie mehr Geschäft machen. In Afrika hat man Müttern lange eingeredet, Milchpulver vom Großkonzern sei für Säuglinge gesünder als Muttermilch. Wenn es um Profit geht, ist der Mensch rücksichtslos.

Das Internet ist ein demokratisches Medium. Theoretisch sollte die freie Verfügbarkeit des Wissens die Menschen klüger machen. Das Gegenteil ist der Fall. Die durchschnittliche Intelligenz in den Industrieländern nimmt ab. Allen geht es um Aufmerksamkeit und Clicks. Fake-News, Clickfarmen, dazu die Bereitschaft des Menschen, sich mit Nonsens ablenken zu lassen. Warum sollte es mit der KI anders sein? Bald wird sie gute Unterhaltung produzieren. Aber Musik, bei der man eine Seele spürt? Kunst, die nicht bloß Schönheit feiert, sondern auch die großen Fragen stellt? Echte Gefühle zu einem künstlichen Stück? Warum nicht? Die Lernfähigkeit der KI ist so fantastisch, dass sie bald gute Bücher schreiben und wunderbare Filme produzieren wird – ohne wirkliche Schauspieler. Vielleicht wird es personalisierte KIs geben, die so erfolgreich sind wie manche Influencer? Künstliche Künstlerpersönlichkeiten?

Algorithmen produzieren Massentaugliches

In der Kunst sind es langfristig die Unnachgiebigen, die Beharrlichen, Unangepassten, und nicht selten auch die Armen, zunächst Erfolglosen, die bleiben. Aber in der KI? Die Algorithmen werden das Massentauglichste kreieren, nicht das Besse-Huhn à la Bocuse, sondern MacDonalds-Burger. Eine von Menschen erdachte KI bildet die Welt ab, wie sie für die Menschen ist: rational, kausal, zielstrebig. Das intuitive, am Gefühl orientierte Denken wird dabei nicht erfasst.

Der neue Vatikan im Silicon Valley verkündet als Heilsversprechen das technologische Paradies auf Erden, aber der Grundsatz „Macht euch die Erde untertan“ ist derselbe. Zuerst ist der Fortschritt eine Erleichterung, aber irgendwann wendet sich der Teufelspakt gegen uns, haben wir dank der freiwilligen Abhängigkeit alles verlernt, sind verkümmerte Bedienauguste. Schon jetzt kann kaum mehr jemand eine Landkarte lesen. Was aber bleibt vom Menschen, wenn er nur noch Benutzer und Konsument ist? Ein lebensunfähiger Kretin, ein Konsumwastl.

Maschinen haben kein Gewissen

Wir beschreiben die Natur aus der einzigen uns möglichen Perspektive, der menschlichen. Alles, was wir wissen, ist menschengedacht, erlebt mit einem Körper, der verletzlich, vergesslich und triebgesteuert ist. Die KI ist dagegen körperlos. Wie wird sie Natur beschreiben? Sie, die sich nicht reproduzieren muss, weil sie unsterblich ist. Maschinen haben kein Gewissen, keinen Ödipus-Komplex und kein Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit. Können sie wissen, wie es sich anfühlt, an einem heißen Tag in einen See zu springen oder sich am Heiligen Abend mit der Familie den Bauch vollzuschlagen? Wie sollen sie Lust am Tabubruch empfinden? Etwas verstehen, das sich nicht beschreiben lässt?

KI stellt in Frage, was wir sind

Ohne Kunst wäre das Leben banal, der Mensch ein Nutztier im Warenkreislauf. Durch die Kunst lernen wir die Welt kennen, und was man kennt, kann man nicht mehr respektlos behandeln. Was ein Herz hat, ist verletzbar, und Kunst hat eine Seele, weil der Mensch an ihr die Beseeltheit der Natur begreift. Müssen wir also Angst vor der KI haben? Sie stellt infrage, was wir sind.

Der Mensch ist fehlerhaft, unergründlich und intuitiv. Sein Hirn hat ein Herz und sein Herz vielleicht eine Seele. Das macht ihn so einzigartig – zumindest aus Menschensicht. Aber jetzt freuen wir uns erst einmal auf das, was kommt. Und wenn jemand fragt: „Warum? Wollen Sie ein Meer eröffnen?“, schreien wir laut Ja. Warum denn nicht?