Tradition. Welche Gefühle steigen bei Ihnen auf, wenn Sie dieses Wort lesen? Wohlige Wärme, ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, von Stolz vielleicht und Sinn? Oder im Gegenteil Gefühle von drückender Enge, von Gewicht und Unsichtbar-Sein, der Wunsch nach Ausbruch und Rebellion?

Tradition ist in unserer Gesellschaft ein ambivalenter Wert. Unternehmen schreiben sie sich werbewirksam auf die Fahnen. Parteien beschwören sie, wenn sie Wähler in Sicherheit wiegen (oder zu Ab- und Ausgrenzung aufwiegeln) wollen.

Wir machen es uns nicht leicht mit dem Begriff

Wir spüren Tradition in Familien und Gemeinschaften, bei Dorffesten und unterm Christbaum, im Gottesdienst oder beim jährlichen Klassentreffen. Wir rollen die Augen über immer gleiche, bedeutungslos gewordene Rituale, längst peinliches Verhalten, das sich aber irgendwie doch immer noch so gehört. Wer würde von sich sagen: „Ich bin durch und durch ein Traditionalist“? Oder im Gegenteil: „Ich habe und brauche keinerlei Tradition“? Wir machen es uns nicht leicht mit diesem seltsamen Begriff.

Tradition ist eine kulturelle Größe. Traditionen verbinden einzelne Menschen zu Gruppen, oft über Generationen und Jahrzehnte hinweg. Sie geben Halt, sie definieren Zugehörigkeit. Das Gefühl, das dadurch in uns entsteht, ist das von Verbundenheit: Ich gehöre dazu. Indem ich tue, was alle tun, bin ich nicht allein.

Die Kehrseite der Tradition ist Starrheit. Damit etwas Tradition werden kann, muss es von vielen oft wiederholt werden, und zwar auf möglichst gleiche Art und Weise. Und das, obwohl ja jedes Mal eigentlich auch etwas ganz anderes möglich wäre: Zu Weihnachten einen rot lackierten Kaktus in die Stube zu stellen, und keinen geschmückten Tannenbaum.

Bei der Fasnacht „Alaaf“ oder „Ahoi“ zu rufen, und nicht „Ho Narro“ oder „Narri Narro“ (oder sonst einen lokal akzeptierten Spruch). Mit Oma an ihrem Geburtstag zum Currywurst-Stand zu gehen, und nicht ins gutbürgerliche Restaurant. Wir stellen uns selbst ständig hinter verankerte Muster zurück – auch dann, wenn es uns eigentlich zuwiderläuft. Wir wollen ja aber dazugehören.

Brechen wir dann aus, werfen Traditionen ab und verhalten uns bewusst gegensätzlich zu allen anderen Menschen in Gemeinschaften, dann finden wir uns oft allein wieder, manchmal werden wir vielleicht sogar ausgegrenzt.

Bewusstsein, welche Werte hinter Traditionen stecken

Wir treten aus dem Konsens der Gruppe hinaus in die Unverbundenheit. Die mag sich zunächst wie Freiheit anfühlen, wie ein endlich offener Raum mit Luft zum Atmen – aber ganz ohne Wurzeln spüren wir bald, wie haltlos wir sind. Wir sind soziale Wesen, die wenigsten von uns taugen als Eremiten. An Heiligabend allein vor einem lackierten Kaktus zu sitzen, dürfte wenig festlich sein. Oma könnte sich am Wurststand nicht angemessen von uns gewürdigt fühlen.

Was also tun, wenn wir weder in der staubigen Enge von Traditionen ersticken wollen, noch unsere Wurzeln in der Gemeinschaft kappen? Tatsächlich geht es um Bewusstheit. Darum zu erkennen, welche Werte hinter welchen Traditionen stecken, und ob diese äußeren Werte mit unseren inneren übereinstimmen.

Wenn sie das tun, können wir uns eine Tradition selbstbestimmt zu eigen machen, und beides bekommen: Sicherheit und Verbundenheit, und die Freiheit der eigenen Wahl.