Die Welt ist ein seltsamer Ort geworden, und das Leben darin zu einem schizophrenen Spagat. In Europa tobt ein brutaler Krieg, und auf Instagram präsentieren Food-Bloggerinnen ein neues Avocado-Rote-Beete-Quinoa-Bowl-Rezept. Die Klima-Krise tickt voran mit jedem Tag, an dem wir Auto fahren, Grillfleisch kaufen und unsere Gasheizung betreiben.

Beide Krisen, Krieg und Klima, bringen Menschen dazu, zu Tausenden ihre Länder zu verlassen. Und dann sind sie plötzlich hier, in unserer direkten Nachbarschaft. Wir organisieren Aufnahmezentren, räumen unsere Gästezimmer, gleichzeitig flattern uns Gartenmöbel-Kataloge ins Haus und wir buchen den nächsten Yoga-Kurs, gehen ins Kino und ins Theater und lecker essen und tanzen (endlich wieder die Clubs offen, Corona ist ja erstmal vorbei, oder nicht? Oder doch?).

Kinder, die vielleicht gesehen haben, wie ihr Haus in Butscha von Bomben zerfetzt wurde und ihre Nachbarn tot auf der Straße lagen, sitzen nach den Ferien mit unseren Kindern zusammen in der Schule, die dann von Wanderausflügen, Eiersuche, Drei-Fragezeichen-Hörspielen und der neuen Eissorte beim Italiener erzählen.

Gendersensible Sprache hier, Sturmgewehre dort

Wir beschäftigen uns mit achtsamem Umgang und gendersensibler Sprache, erforschen unser Inneres und streben nach Persönlichkeitsentwicklung. 1500 Kilometer entfernt lernen Menschen wie wir den Umgang mit Sturmgewehren. Es ist zum Verrücktwerden.

Ist es richtig oder falsch, was wir tun, gut oder schlecht, ehrenhaft oder sinnlos, wichtig oder egal? Was ist schlecht an der Quinoa-Bowl, was ist gut an der Idee, sein Leben für ein Vaterland zu opfern? Sollte ich den Yoga-Kurs absagen und stattdessen als Kämpfer in die Ukraine reisen? Oder doch in eine Höhle ziehen, Wildkräuter essen und damit nicht zum nächsten Klima-Kipppunkt beitragen?

Politiker werden und das Gemeinwesen lenken, in eine vermeintlich gute Richtung, oder doch „einfach nur“ ein präsenter Freund, Partner, Vater sein und vermeintlich Gutes im ganz Kleinen tun?

Es geht um Entscheidungen, um unser Handeln, um den Unterschied, den wir machen, jeden Tag und jede Minute. Das ist nicht neu. Neu ist, dass die Kontexte, in denen wir das tun, so komplex und vernetzt und widersprüchlich geworden sind, dass es kaum noch sichere Leitplanken gibt.

Was heute gut und richtig wirkt, kann morgen schon falsch sein. Das ist frustrierend und beängstigend, und doch sollten wir eines nicht tun: Gar nicht mehr entscheiden, keinen Unterschied mehr machen wollen und uns hoffnungslos ausliefern.

Auch die Quinoa-Bowl kann hilfreich sein

Stattdessen könnten wir versuchen zu spüren und bewusst zu bedenken, ob das, was wir tun, stimmig ist – für den Teil des Kontextes, den wir überblicken können. Wenn ich gut für mich sorge, ja, auch mit einer Quinoa-Bowl, kann ich besser hilfreich für andere sein. Wenn ich heute ins Kino gehe, spende ich nächste Woche vielleicht eine ähnlich hohe Summe an einen Verein für Flüchtlingshilfe.

Ich fahre mit meinen Kindern nach Skandinavien, jawohl, mit dem Auto – vielleicht ist das Erleben von weiter Natur für sie ja so prägend, dass sie die Schöpfung bewahren lernen wollen. Ich kann für Waffenlieferungen an die Ukraine sein, und gleichzeitig achtsam, wertschätzend und liebevoll mit meinen Mitmenschen umgehen. Vielleicht ist der Spagat die beste Strategie, um standfest zu bleiben.