Stellen wir uns kurz eine Welt vor, in der wir alle immer vollkommen aufrichtig, schonungslos ehrlich und gleichzeitig wertschätzend und interessiert an unserem Gegenüber sind. In jeder Begegnung, Ehe, Arbeitsbeziehung. Es wäre eine andere Welt, nicht wahr?

Was theoretisch sehr einfach klingt (offen sprechen und menschlich dabei bleiben), ist erstaunlich schwer. Tatsächlich tun wir es fast nie. Das ist doch seltsam, weil es ja so viele positive Auswirkungen hätte auf unsere Begegnungen: Klarheit, Unmissverständlichkeit, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit. Was also hält uns zurück?

Die Amerikanerin Kim Scott (Start-up-Gründerin im Silicon Valley, Dozentin, Führungskraft bei Google und Apple, Management-Coach, Leiterin einer Kinderklinik im Kosovo, Gründerin einer Diamantschleiferei in Moskau und Mutter von Zwillingen) hat ein Buch darüber geschrieben. Sie nennt jene seltene Form des Umgangs „Radikale Aufrichtigkeit“ und sagt: Je tiefer eine Beziehung ist, desto herausfordernder darf eine Rückmeldung sein. Jedes Feedback wird dann zu einem Akt der Wertschätzung: „Deine Entwicklung ist mir nicht egal, du bist mir nicht egal“. Denn (vor allem kritische) Rückmeldung ist immer ein möglicher Anlass zu Veränderung.

Toxisch empathisch

Warum schenken wir uns das nicht ständig gegenseitig? Weil wir aus scheinbar guten Gründen in ungute Muster rutschen. Zum Beispiel in einen Zustand, den Scott „toxisch empathisch“ nennt. Hier verschweigen wir Kritisches oder loben über den grünen Klee, weil wir eine Beziehung nicht gefährden wollen. Der Mensch gegenüber ist uns wichtig, und genau deshalb flüchten wir in Unklarheit. Das aber ist falsch verstandenes Mitgefühl: Indem wir unserem Gegenüber Kritik nicht zutrauen, rauben wir ihm möglicherweise eine wichtige Wachstums-Chance. Wir missachten seine Potentiale.

Doch auch umgekehrt wird es destruktiv: Wenn wir zwar hartes Feedback geben, aber gleichzeitig aus dem menschlichen Kontakt gehen und uns durch Kälte emotional panzern. Dann wirkt die Rückmeldung plötzlich wie ein Angriff, eine Abwertung, oder wie Gleichgültigkeit. Die Folge: Unser Gegenüber wird sie abblocken, zum Gegenangriff übergehen, sich einfach nur schlecht fühlen, aber eines sicher nicht tun: Die Kritik ernsthaft prüfen und sich verändern. Wieder eine verpasste Chance.

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Ganz übel wird es, wenn wir egoistisch und gleichzeitig unklar werden. Diesen Zustand nennt Scott „manipulativ unaufrichtig“: Unsere Unklarheit soll uns selbst einen Vorteil verschaffen, auf Kosten des Gegenübers. Das zerstört auf Dauer die Beziehung, und zudem unsere eigene Integrität. Wie also können wir radikale Aufrichtigkeit lernen?

Kim Scotts Empfehlung ist der schwerste aller Wege: Fange bei dir selbst an. Ermutige Menschen in deinem Umfeld, dich mit klaren, vollständigen, aufrichtigen Rückmeldungen herauszufordern. Mache dich angreifbar, ohne selbst anzugreifen. Höre zu, bevor du selbst anfängst zu sprechen. Spüre, wie unangenehm es ist kritisiert zu werden. Lerne, wie gut es tun kann, aus Kritik zu lernen. Und dann drehe es um – in deiner Partnerschaft, mit deinen Kindern, gegenüber deinem Chef, der besten Freundin, der Schwiegermutter und dem nervigen Kollegen. Und du wirst merken, wie die Welt anfängt sich zu verändern.