Embrach. Ein kleines Schweizer Dörfchen, irgendwo im Nirgendwo. Anders als der Schweiz oft nachgesagt wird, ist es hier nicht sonderlich idyllisch. Auf der Hauptstraße gibt es einen Supermarkt und mehrere Tankstellen. Der Ort wirkt mehr wie ein Pitstop auf der Durchreise, bleiben mag man hier nicht. Hinter der Ortsausfahrt in der Kurve liegt die Auffahrt zum Asylzentrum. Wer das nicht weiß, fährt daran vorbei. Der Weg am Waldrand entlang ist so schmal, dass sich Autos gegenseitig ausweichen müssen. Hinten am Waldrand liegt eine Klinik für Psychotherapie. Auf einer Baustelle herrscht geschäftiges Treiben. Die unscheinbaren, verlassen wirkenden gelben Containerbauten nebenan fallen zunächst gar nicht auf: Hier, im Asylzentrum Embrach (westlich von Winterthur), läuft derzeit eine Art Versuchsreihe.
Ab März 2019 tritt das sogenannte beschleunigte Asylverfahren in der gesamten Schweiz in Kraft. Getestet wird das schon seit 2014 in Zürich, seit April läuft zudem ein Test in Boudry im französischsprachigen Teil der Schweiz. Das Besondere daran: alle zuständigen Behörden sollen unter einem Dach sein – die Asylsuchenden dort sein, wo die Entscheidungen fallen. „Dezentralisierung“ lautet das Stichwort. Die
Asylsuchenden bekommen einen Rechtsbeistand, ihr Antrag wird geprüft und bestätigt oder abgelehnt, von solchen Ankerzentren aus geht es in einen Kanton oder zur Abschiebung. „Beschleunigtes Asylverfahren“ nennen sie das hier, die „Grundlage eines konsequenten, fairen und glaubwürdigen Asylwesens“, wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) auf seiner Webseite erklärt. Beschleunigt, das heißt in diesem Fall, dass innerhalb von 140 Tagen ein Beschluss vorliegen muss.
„Das hat zwei Vorteile“, erklärt Zentrumsleiter Sandro Salathe: „Zum einen können Asylsuchende, die Anspruch auf unseren Schutz haben, schneller integriert werden, und die, die keinen Anspruch haben oder für deren Gesuch die Schweiz nicht zuständig ist, sind dann auch schneller wieder weg. Es ist sehr hart, wenn jemand zwei Jahre hier ist, die Kinder lernen schon Deutsch und gehen hier zur Schule, und dann müssen sie wieder gehen.“ So weit die Theorie. 140 Tage Frist. Erst nach Ablauf werden die Asylsuchenden einem Kanton zugewiesen – oder aber sie kommen nach Embrach. Das „Bundesasylzentrum ohne Verfahrensfunktion“ ist die letzte Station – hier warten Asylsuchende auf den Prozessausgang. Bei 80 Prozent der Menschen geht es um ein Dublin-Verfahren. Ein kleiner Teil wartet auf den „Vollzug“ – zu Deutsch die Abschiebung. Bis dahin gibt es Stockbetten und Militärspints, Kantinenessen, Arbeitsprogramme und Freizeitangebote. Sie sollen das Warten auf den Entscheid erleichtern. Doch die meisten, die nach Embrach kommen, warten nicht. Denn sie haben ohnehin wenig Chancen, bleiben zu dürfen.
Zwar Zäune, aber kein Stacheldraht

Eine Beamtin am Eingang möchte den Personalausweis sehen, auf dem Gelände bewegen darf man sich nur in Begleitung. Das kleine Asylzentrum ist nur ein Provisorium. Die Baustelle nebenan soll bis zum Sommer 2019 fertig sein. 120 Betten hat das Mini-Containerdorf, das völlig verwaist wirkt. Mit dem Neubau sollen es 360 Plätze werden. Etwa 50 bis 60 Menschen halten sich derzeit im Schnitt im Embracher Ankerzentrum auf. 60 Prozent reisen „unkontrolliert“ ab, wie man hier sagt – eine bürokratische Formulierung für die illegale Migration in Nachbarstaaten. „Es gibt Indizien, dass die Mehrheit der Leute weiterzieht, auch nach Deutschland“, umschreibt es Salathe. Das Zentrum hat zwar Zäune, aber keinen Stacheldraht. Die Flüchtlingsunterkunft ist schließlich keine Haftanstalt. Wer verschwindet, wird zur Fahndung ausgeschrieben – mit Foto und Fingerabdruck, beides wird direkt bei der Ankunft in der Schweiz aufgenommen. Doch nur ein Bruchteil wird verhaftet.

Derzeit gehen die Flüchtlingszahlen in der Schweiz eher zurück. „Aber das kann sich natürlich schnell ändern“, beeilt sich Salathe zu sagen. „Wenn ein an die Schweiz angrenzendes Land seine Asylpolitik ändern würde, könnte dies natürlich auch Auswirkungen auf uns haben.“ Damit meint er Deutschland und den Asylstreit. Für die Schweiz könnte sich so einiges ändern, wenn Österreich seine Grenzen schließt und Deutschland Ernst macht mit den Zurückweisungen an der Grenze. „Die Schweiz grenzt nicht an ein Meer und liegt nicht im Süden von Europa. Diese Länder müssen sehr viel mehr Asylsuchende aufnehmen als wir“, betont der Embracher Zentrumsleiter. Tatsächlich beteiligt sich das Land an der freiwilligen Umverteilung von Flüchtlingen aus Griechenland und Italien – 1500 Flüchtlinge hat das kleine Land in den vergangenen Jahren aufgenommen: mehr als mancher Mitgliedstaat der EU. „Das Problem ist, dass sich nicht alle Länder solidarisch verhalten“, sagt Salathe, „zudem sind gewisse Länder die attraktiveren Ziele für Flüchtlinge als andere.“
Ob die Schweiz gewappnet ist, sollte es wieder zu einer Flüchtlingskrise kommen wie im Sommer 2015? „Europa ist offen. Die Menschen können sich grundsätzlich frei bewegen, auch wenn es natürlich weiterhin Grenzkontrollen gibt.“ In der Praxis bedeutet das, dass die Schweiz prüft, ob schon ein Asylverfahren in einem EU-Staat läuft. Im Sommer 2015 haben Hunderttausende Griechenland, Italien und Ungarn verlassen – unkontrolliert, wie der Schweizer sagt. Illegale Grenzüberschreitung würde Innenminister Horst Seehofer sagen. Käme es erneut dazu, wäre wohl auch die Schweiz überfordert, schlügen die Migranten eine neue Route ein – sie würde zum Transitland. Dabei deuten die Zahlen schon jetzt darauf hin, dass genau das passiert. „Ausschaffungen“, wie der Schweizer die Abschiebung nennt, machen nur einen geringen Anteil in der Gesamtstatistik aus, freiwillige Rückkehr in die Heimat der Asylsuchenden ebenso wenig: zusammengenommen ein Sechstel aller Abreisen aus dem Land.
Trotzdem ist Salathe überzeugt von dem neuen System. Die Beschleunigung des Asylverfahrens sei zentral, betont er. Durch den Rechtsschutz für die Asylsuchenden gebe es automatisch auch eine stärkere Kontrolle, dadurch sei auch die Beschwerdequote gesunken. Diese zieht mitunter langwierige Verfahren nach sich, die die 140-Tage-Frist deutlich sprengen. Wenn die Betroffenen überhaupt so lange warten. Der Rechtsbeistand bringt zwar schneller Klarheit für die Asylsuchenden – aber, und das gesteht auch Salathe ein, je aussichtsloser die Situation, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die Migranten den Entscheid gar nicht erst abwarten.
Drei Franken Taschengeld am Tag
Zahra Jolame wartet seit drei Monaten. Die 36-jährige Iranerin lebte in Afghanistan in Hasare, sie ist verheiratet und hat drei Kinder. Ihr Mann ist mit einem Sohn und der Tochter in Griechenland, ihr zweiter Sohn in Schweden. Über ihre Vergangenheit mag sie nicht sprechen. Sie sagt nur etwas von den Taliban und was sie mit Frauen tun. Ein Betreuer, der als Dolmetscher einspringt, spricht selbst nur gebrochen Deutsch, übersetzt nur verkürzt, was die Frau erzählt. Sie kam über die Türkei und Griechenland bis in die Schweiz, wo sie festgenommen wurde. Die Polizei hat sie hierhergebracht. Ihr Anwalt steht im Kontakt mit den schwedischen Behörden. Sie möchte, dass ihre Familie wieder vereint ist.

Im Embracher Zentrum fühlt sie sich wohl, trotz aller Abgeschiedenheit – „very good persons“ (sehr gute Menschen) sagt sie über die Mitarbeiter des Zentrums. Aber sie ist einsam hier. Die Frage, ob sie hier Freundinnen gefunden habe, verwundert sie sichtlich, sie lacht. Wie sie ihren Tag verbringt? Sie putzt hier im Zentrum, sagt sie, manchmal geht sie auch raus, nimmt an einer der gemeinnützigen Arbeiten teil – wie Müll sammeln zum Beispiel.“ Bis zu 400 Franken dürfen die Asylsuchenden maximal pro Monat verdienen, so lange sie in einem Ankerzentrum untergebracht sind. Das ist die Grenze, bis zu der ein Verdienst nicht als Arbeit gilt. Denn das ist in der Schweiz verboten, so lange der Status des Flüchtlings ungeklärt ist. Zudem erhalten die Asylsuchenden ein Taschengeld von drei Franken am Tag. Es gibt Seelsorger im Zentrum, Sprachkurse, Sport- und kulturelle Angebote. Auch eine Rückkehrberatungsstelle: „Die Leute gehen früher zurück und auch häufiger“, betont Salathe. Die meisten aber sind auf der Durchreise.
Zur Person
Sandro Salathe (31) leitet seit April 2018 das Asylzentrum in Embrach. Er ist zudem übergangsweiser stellvertretender Chef der Sektion Dublin & Rückkehr Zürich.Was die Dublin-Verordnung besagt
Im Zusammenhang mit der Asylpolitik der EU und einigen Nachbarstaaten ist immer wieder von der Dublinverordnung die Rede. Doch was hat es damit genau auf sich? Hier die wichtigsten Fakten dazu:
- Welche Länder nehmen am Dublin-System teil? Am sogenannten Dublin-System sind nicht nur die 28 EU-Mitgliedstaaten, sondern auch Norwegen, Island, Liechtenstein und die Schweiz beteiligt.
- Worum geht es bei der Verordnung? Das Verfahren soll für klare Zuständigkeiten sorgen: Nur ein einziger Staat prüft demnach einen Asylantrag. Und zwar das Land, über das der Flüchtling zuerst in die EU oder die anderen teilnehmenden Staaten gelangt ist. Außerdem will die Gemeinschaft damit verhindern, dass ein Migrant in verschiedenen Staaten Asyl beantragt. Deshalb ist jedes Land angehalten, zunächst jeden Asylantrag zu prüfen – auch, um herauszufinden, ob ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist.
- Läuft das Asylverfahren in allen Mitgliedstaaten gleich? Nein, bislang nicht. In jedem EU-Land gilt das nationale Recht für die Prüfung des Schutzantrags.
- Warum soll die Dublin-Verordnung reformiert werden? Sie wurde in einer Zeit geschaffen, in der die EU kaum von Migrationsströmen betroffen war. De facto sorgt das System aber für eine ungleiche Belastung für die Mitgliedstaaten. Mittelmeeranrainer und Länder an den Außengrenzen der Europäischen Union müssen nach diesem System viele der Asylanträge prüfen und, wenn das Gesuch berechtigt ist, den Flüchtling aufnehmen. 2015 hat das zur völligen Überlastung vor allem Griechenlands und Italiens gesorgt.
- Was genau plant die EU für die künftige Asylpolitik? Zunächst geht es darum, dass die Mitgliedstaaten freiwillig eine Quote zur Verteilung der Flüchtlinge akzeptieren. Ist das Kontingent des betroffenen Landes erschöpft, sollen andere Staaten einspringen. De facto wehren sich jedoch vor allem osteuropäische Staaten gegen einen festen Verteilschlüssel. Auch Italien und Österreich lehnen das ab. Langfristig will die EU-Kommission erreichen, dass eine gemeinsame Asylbehörde Asylanträge zentral verwaltet und Flüchtlinge dann auf die Mitgliedstaaten verteilt werden. Das geht allerdings nur, wenn die Verfahren in allen Ländern gleich ablaufen.
- Was passiert, wenn ein Flüchtling bereits in einem anderen Mitgliedstaat registriert ist? In diesem Fall kann das betroffene Land den Asylsuchenden theoretisch in das zuständige EU-Land abschieben. De facto ist dafür allerdings die Zustimmung der dortigen Behörden nötig. Das führt in der Praxis mitunter dazu, dass Flüchtlinge in einem Land „stranden“, obwohl eigentlich ein anderer Mitgliedstaat zuständig wäre.
- Gibt es zusätzliche bilaterale Vereinbarungen zwischen Deutschland und der Schweiz? Ja, es gibt einen gemeinsamen Aktionsplan, in dem beide Länder unter anderem die Verstärkung gemeinsamer Streifen und Patrouillen – etwa im grenzüberschreitenden Zugverkehr – beschlossen haben. Beide wollen zudem die Fristen für Rücküberstellungen von Dublin-Flüchtlingen verkürzen, fordern langfristig aber eine Reform, die „auf Solidarität zwischen den Dublin-Staaten beruht.“ (mim)