Es ist wohl eine besonders zielstrebige Generation von Waldrappen, die derzeit vom Bodensee aus in Rekordzeit in den Süden zieht. Sie haben dabei freilich Hilfe: Die anfangs 31 Vögel fliegen zwei Ultraleichtflugzeugen hinterher. Am 15. August ist die Gruppe aus Ziehmüttern, Piloten und den Vögeln in Überlingen gestartet und nach vier rasch absolvierten Etappen nahe Florenz angekommen. Am Sonntag oder am Montag soll das letzte Stück ins Winterquartier in der toskanischen Laguna di Orbetello folgen.
Hinter den spektakulären Bildern, wie die schwarzen Vögel mit dem langen Schnabel einem Fluggerät hinterherfliegen, verbirgt sich ein einzigartiges Wiederansiedlungsprojekt.

Die Idee
Die letzte wilde Waldrapp-Population ist vor rund 400 Jahren aus Mitteleuropa verschwunden. Daran will das von der EU finanzierte Projekt „Reason for Hope“ (Grund zur Hoffnung) etwas ändern. Ziel ist es, eine „selbstständig lebende, migrierende Population in Europa zu haben“, sagt der leitende Biologe Johannes Fritz. Dafür gibt es Standorte in Überlingen, dem oberbayerischen Burghausen und in Kuchl bei Salzburg. Hier werden Waldrapp-Küken, die meist aus Österreich stammen, groß gezogen.

Das Problem
Waldrappe sind Zugvögel. Die aufgezogenen Jungvögel müssen Mitte, Ende August ins südliche Winterquartier fliegen. Nur: Allein finden sie das nicht. Und erwachsene Leittiere fehlen. Deswegen muss der Mensch nachhelfen. Die Waldrappe vom Bodensee haben deswegen zwei menschliche Zieheltern. Tagein, tagaus kümmern sich Anne-Gabriela Schmalstieg und Corinna Esterer um ihre Schützlinge. Diese prägen die Tiere von klein auf völlig auf sich – sodass die Waldrappe ihnen ins Winterquartier hinterherfliegen. Da allerdings selbst am Bodensee die Menschen nicht fliegen können, setzen sich die Ziehmütter in zwei je zweisitzige Ultraleichtflugzeuge, die von Piloten Richtung Waldrapp-Winterquartier gesteuert werden – und nach dem richtigen Training fliegen die Vögel ihnen konsequent hinterher.

2017 startete der erste Winterquartiersflug von Überlingen, dieses Jahr folgte der zweite. Der Name Winterquartier täuscht etwas – die Tiere sollen dort ihre komplette Jugend verbringen und erst mit drei Jahren zurück nach Überlingen fliegen.
Die Aufzucht
Wenn die Ibisvögel schlüpfen, bringen sie gerade einmal 20 Gramm auf die Waage. „Nach 25 Tagen wiegen sie bereits rund 1200 Gramm und damit in etwa so viel wie ein erwachsener Waldrapp“, erklärt Biologe Fritz. Es sind echte Profis nötig, um die Waldrappe gesund aufzuziehen. Der Kontakt der Küken ist dabei strikt auf die beiden Ziehmütter beschränkt. Die beiden Frauen nutzen in verschiedenen Situationen den Lockruf „Kommt kommt, Waldis, kommt kommt“ und tragen durchweg die Farbe Gelb im Kontakt mit den Küken. Mit jedem einzelnen Jungvogel kommt eine dauerhafte soziale Bindung zustande. Selbst nach Jahren erkennen die Waldrappe ihre Ziehmütter wieder.
Wichtig ist der intensive Kontakt. „Waldrappe kuscheln sehr gerne. Sie spielen mit unseren Haaren. Ein Loch im Pullover kann auch interessant sein, oder sie finden Hautfalten zum Reinkneifen“, erzählt Anne-Gabriela Schmalstieg. Die Frauen bringen den Vögeln auch bei, Leichtflugzeugen hinterherzufliegen. Andere Teammitglieder dürfen sich den Waldrappen nicht nähern und sollten auch auf die Farbe Gelb verzichten. Das mit der Kontaktaufnahme gilt ebenfalls für die Besucher, die im ersten Jahr in Scharen ins Trainingscamp strömten, als der Vogel noch eine ganz neue Erscheinung in Überlingen war.

Der diesjährige Flug
Gewitter, ein Angriff eines Steinadlers und ein Fuchs in der Voliere konnten die Waldrappe vom Bodensee auf ihrem Weg in die Toskana bisher nicht stoppen. Nur noch 200 Kilometer trennen die seltenen Zugvögel von ihrem Winterquartier. „Der Verlauf bisher war beispiellos“, sagt Projektleiter Fritz. Ein paar Zwischenfälle gab es aber: Ein Fuchs hatte sich in die Voliere geschlichen, in der die Vögel während der Zwischenstopps untergebracht sind. Dabei verletzte er zwei Tiere, eines starb kurz darauf. In Südtirol attackierte ein Steinadler die Waldrappe. „Aber die Vögel reagierten sehr rasch und suchten die Nähe zum Fluggerät“, sagt Fritz. Dadurch sei keines der Tiere verletzt worden. Zweimal hätten sie fast ein Gewitter erwischt. Knapp vorher konnte die Gruppe Fritz zufolge jedoch landen.
Zwischen den Etappen liegen jeweils ein bis eineinhalb Tage Pause. Die Waldrappe verbringen dann viel Zeit mit ihren Ziehmüttern. In Borgo San Lorenzo harrten die beiden Frauen sogar im Gewitter bei ihren Schützlingen aus.
Die Hoffnung
Die Vögel, die 2017 über die Alpen geflogen sind, sollen 2020 nach Überlingen zurückkehren und dort brüten. Im April oder Mai 2020 erwartet Waldrappteam-Leiter Fritz die Tiere definitiv zurück. Der eine oder andere Vogel könnte sich schon 2019 über die Alpen wagen. „Das sind super individuelle Vögel“, sagt Fritz.

Der Experte rechnet damit, dass etwa zehn der ursprünglich 31 Vögel die Geschlechtsreife erreichen und potenziell eigenen Nachwuchs am Bodensee aufziehen. Wenn die EU das Projekt weiterfördert, ist es bis 2028 angelegt. Dann soll es wieder eine stabile natürliche Waldrapp-Population in Europa geben. Die wird es dann auch ganz ohne menschliche Hilfe über die Alpen schaffen.

Das ist der Waldrapp
Der Waldrapp (Geronticus eremita) gehört zu den Ibisvögeln und erreicht ein Körpergewicht von 1 bis 1,5 Kilo und eine Flügelspannweite von bis zu 125 Zentimetern. Männchen und Weibchen zeigen keine deutlichen Geschlechtsunterschiede. Er hat ein schwarzes, grün-violett glänzendes Gefieder, am Kopf verlängerte Federn und einen roten, nach unten gebogenen Schnabel. Er frisst gerne Insekten, Larven und Regenwürmer. Er ist ein Zugvogel, der bis ins 17. Jahrhundert auch in Mitteleuropa heimisch war und dort durch Überjagung verschwand. Heute zählt er zu den am stärksten bedrohten Vogelarten weltweit. Jetzt soll der Vogel wieder ein heimischer Zugvogel werden.