Dass Staatsanwalt und Verteidiger gebeten werden, in einem Strafprozess zweimal ein Schlussplädoyer zu halten, kommt statistisch gesehen vernachlässigbar selten vor. Es kann aber vorkommen, wenn es zwischen den Plädoyers und der Urteilsbildung neue Erkenntnis gibt, die berücksichtigt werden müssen.
So, jetzt geschehen beim Prozess vor der Ersten Großen Jugendkammer des Landgerichts Waldshut-Tiengen gegen einen 45 Jahre alten Mann, dem vorgeworfen wird, seine Tochter zwischen 2018 und 2020 mehrfach sexuell missbraucht zu haben. Die Taten hatten sich im Haus der Urgroßmutter der jungen Frau in einem Dorf im Norden des Kreises Waldshut ereignet. In die Beweisaufnahme musste wieder eingetreten werden, weil bekannt wurde, dass die junge Frau Jahre später in Konstanz einen Mann wegen Vergewaltigung angezeigt hatte.
Plädoyers ohne Überraschungen
Wenig überraschend kam Staatsanwältin Bisegger jetzt zu keinem anderen Ergebnis als vor wenigen Tagen. Für sechs Jahre und sechs Monate solle der Mann ins Gefängnis. Beim Strafmaß schloss sich jetzt auch Nebenklagevertreterin Ulrike Heim der Staatsanwältin an. Nicht minder wenig überraschend ist, dass Claudius Klueting einen Freispruch für seinen Mandanten fordert. Das hatte in der ersten Runde bereits Sascha Böttner getan, der unmittelbar danach nach Hamburg fliegen musste, weil er dort einen der Mitangeklagten im Block-Prozess wegen Kindesentführung vertritt. Böttner hatte sich damals von der Unschuld seines Mandanten felsenfest überzeugt gezeigt. Klueting sprach jetzt davon, dass die Unschuldsvermutung für seinen Mandanten nicht habe widerlegt werden können.
Wie glaubwürdig ist die Tochter?
Einig waren sich Verteidigung und Staatsanwaltschaft darin, dass sich eine etwaige Verurteilung des Mannes ausschließlich auf die Aussagen der heute volljährigen Frau stützen kann, die zum Zeitpunkt der ersten Vorfälle erst zwölf Jahre alt gewesen war. Bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit kommen nun zwei spätere Fälle im Kreis Konstanz ins Spiel.
Zum einen besagter Vergewaltigungsvorwurf in einem Toilettenwagen während eines Straßenfestes in Konstanz und zum zweiten der Vorwurf gegen den Vater einer Freundin des Mädchens. Dieser soll mehrfach sexuell übergriffig geworden sein und der jungen Frau in den Schritt gefasst haben. Verurteilt wurde er aber lediglich wegen zweier Bilder seines nackten Gliedes, die er der Frau geschickt hatte. Der Rest des Verfahrens wurde eingestellt. Das Verfahren wegen der Vergewaltigung bei dem Straßenfest wurde von der Staatsanwaltschaft Konstanz in Gänze eingestellt.
Welche Rolle spielen die Fälle im Kreis Konstanz?
Die Frage, ob diese Verfahrenseinstellungen Rückschlüsse auf die Fälle zulassen, die jetzt vor dem Jugendgericht in Waldshut verhandelt werden, verneinte Staatsanwältin Bisegger. Es gebe keinerlei Indizien dafür, dass die junge Frau die Vorwürfe erfunden habe, etwa um Aufmerksamkeit zu erhaschen. Auch spielten die Fälle im Kreis Konstanz in einer Zeit, in der die Fälle im Kreis Waldshut bei der Justiz bereits aktenkundig waren. Von Interesse wäre gewesen, wenn es Hinweise auf Fälle gegeben hätte, die vor den Vorkommnissen im Schwarzwalddorf im Kreis Waldshut geschehen wären. Die aber habe es nicht gegeben, sodass auch nichts für die sogenannte Wahrnehmungsübertragungsthese spreche.
„Ihr fehlt die Kompetenz, diese Dinge im Haushalt der Uroma zu erfinden“, zeigte sich auch Ulrike Heim als Vertreterin der Nebenklage überzeugt davon, dass die Frau die Wahrheit ausgesagt habe. Die von der Staatsanwältin geforderten sechseinhalb Jahre Haft seien in Ordnung; „aber nicht darunter“, sagte die Vertreterin der Nebenklägerin. Sie sah die Schuld des Vaters bei zehn sexuellen Übergriffen auf das Mädchen als erwiesen an. In neun dieser zehn Fälle sei ihre Mandantin jünger als 14 Jahre gewesen. Staatsanwältin Bisegger hatte in ihrem ersten Plädoyer die Zahl der strafbaren Fälle von 25 in der Anklageschrift auf sechs reduziert.
Anders als die Staatsanwältin und die Nebenklagevertreterin hält es Anwalt Claudius Klueting für „ziemlich wahrscheinlich“, dass die junge Frau bei ihren Vorwürfen gegen ihren Vater frühere Erlebnisse übertragen hat. „Was die Nebenklägerin im Haushalt ihrer Mutter erleben musste, dürfte Einfluss auf sie gehabt haben“, meinte der Anwalt. Dass die Nebenklägerin dort Gewalt erfahren habe, räumte auch die Staatsanwältin ein. Diese sei aber nicht sexueller Natur gewesen.
Wieso kehrte die Frau immer wieder zurück?
Schließlich wies der Anwalt noch darauf hin, dass die Nebenklägerin ja immer wieder ins Haus ihrer Uroma gekommen sei, in welchem ihr Vater mit seiner Lebenspartnerin ebenfalls eine Wohnung bezogen hatte. „Warum sollte die Jugendliche nach solchen Erfahrungen immer wieder zurückkommen?“, fragte er. Der Anwalt sprach von einer „äußerst schwer vorbelasteten jungen Frau“. Nichts spreche dafür, dass sie die Taten so erlebt habe. „Man kann ihr nicht glauben“, startete er einen Frontalangriff auf ihre Glaubwürdigkeit. Damit, so seine Schlussfolgerung, sei das einzige Beweismittel entfallen.
Eine Antwort lieferte die Nebenklägerin noch: „Ich bin immer zur Uroma gekommen, weil meine Mutter mich dahin gefahren hat. Ich musste da hin.“ Der Angeklagte, der sich zu Beginn des Prozesses nicht zur Sache äußerte, machte jetzt auch von seinem Recht des letzten Wortes keinen Gebrauch.
So lief die bisherige Verhandlung
Erster Prozesstag: Das wird dem Angeklagten vorgeworfen
Zweiter Prozesstag: Das Opfer sagt mehr als drei Stunden aus
Dritter und vierter Prozesstag: Der Gutachter hält das Opfer für glaubwürdig
Missbrauchsprozess: Gericht befragt Zeugin in Schleswig-Holstein per Videokonferenz.