Max Czollek, Autor von "Desintegriert euch!"
Max Czollek, Autor von "Desintegriert euch!" | Bild: Peter Hassiepen | Munich

Herr Czollek, die ganze Welt spricht von Integration. Sie fordern nun: „Desintegriert euch!“ Wie kommen Sie denn dazu?

Das Buch ist ja nicht der erste Schritt. Dem gehen verschiedene Dinge voraus. Das eine ist eine Dissertation, die ich am Zentrum für Antisemitismusforschung geschrieben habe. Gleichzeitig habe ich am Berliner Maxim-Gorki-Theater gemeinsam mit der Autorin Sasha Marianna Salzmann den Desintegrationskongress organisiert.

Einen Desintegrationskongress?

Der Kongress war der Versuch, die Zuordnung symbolischer Rollen an Minderheiten im Theater zu thematisieren und umzukehren. Unser Motto lautete entsprechend: Alle sind eingeladen, sogar Deutsche!

Sie argumentieren aus einer spezifisch jüdischen Perspektive. Das überrascht: Für gewöhnlich wird das Thema Integration eher aus islamischer Sicht diskutiert. Juden werden allenfalls gefragt, wenn es darum geht, sich zu islamischem Antisemitismus zu äußern.

Was witzig ist, denn über 90 Prozent der Jüdinnen und Juden sind in den Neunzigerjahren aus der Sowjetunion migriert. Das illustriert eindrucksvoll, dass das Sprechen über muslimischen Antisemitismus eine Rolle ist, die Juden in der Öffentlichkeit zugewiesen bekommen – und dass sie diese Rolle bisweilen auch gerne erfüllen. Der Aufruf zur Desintegration bedeutet eine doppelte Kritik: zum einen an diejenigen, die diese Rolle zuweisen, zum anderen aber an die Vertreter von Minderheiten, die dabei mitspielen.

Wie ist denn die Rolle der Juden aus Ihrer Sicht in unserer Gesellschaft?

Die jüdische Position entsteht im Koordinatenfeld Antisemitismus, Schoah und Israel. Das sind die drei Themen, über die Juden in Deutschland als Juden sprechen können. Juden sollen erklären, wer aktuell gerade antisemitisch ist oder nicht. Man erwartet von ihnen, dass sie einen familiären Bezug zur Schoah haben. Ohne ist langweilig und irgendwie auch nicht jüdisch. Und schließlich sollst du als Jude immer eine eigene Meinung zur israelischen Politik haben. Dabei kennen sich viele doch noch nicht einmal besonders gut in der deutschen Politik aus!

Wo befinden sich die Muslime in diesem System?

Die haben ein eigenes Koordinatenfeld. Bei ihnen ist das: Integration, Frauenverachtung und neuerdings verstärkt Antisemitismus. Über diese drei Themen sollst du als Muslim ständig sprechen. Schauen Sie sich nur an, wie Muslime jeden Abend in unseren Talkshows befragt werden: Es sind immer die gleichen drei Themen!

Nach Ihrer Ansicht sind Juden oder Muslime in unserer Gesellschaft nicht wirklich willkommen und können sich deshalb auch nicht integrieren. Ihre Funktion beschränkt sich darauf, uns in dem Glauben zu bestätigen,
wir seien so wunderbar weltoffen und liberal.

Das ist eine sehr polemische Zuspitzung meiner Thesen und darum ungenau. Ich kritisiere die Verwendung des Integrationsparadigmas zur Bestimmung, wer zu dieser Gesellschaft gehört und wer nicht. Integrierte Muslime sind ja willkommen! Gute Juden ebenfalls. Aber eben nur, wenn sie die Rolle erfüllen, die ihnen zugedacht worden ist. Dagegen wendet sich „Desintegriert Euch!“, indem es sagt: Wir gehören zu Deutschland, auch wenn wir diese Funktionen nicht erfüllen. Auf der anderen Seite erleben wir derzeit gerade eine große Rückwärtsbewegung. Bundesweit sind 20 Prozent der Wähler bereit, die AfD zu wählen. Das bedeutet: Ein Fünftel der Gesellschaft stellt die Errungenschaften einer offenen Gesellschaft – Pluralismus, Minderheitenrechte, Perspektivenvielfalt – infrage. Dieser Umstand fordert uns dazu heraus, die Idee einer offenen Gesellschaft weiterzuentwickeln, weil es sie sonst nicht mehr geben wird.

In welche Richtung müssen wir uns denn bewegen? Die Alternative zur Integration wäre doch totales Chaos!

Integration ist das zentrale Denkmodell, mit dem sämtliche demokratische Parteien Zugehörigkeit in der deutschen Gesellschaft bestimmen. Was ist damit gemeint? Zum einen das Erlernen der deutschen Sprache, das Bemühen um einen Arbeitsplatz und dergleichen mehr. Es bedeutet aber noch mehr: Bis in die dritte Generation hinein werden Menschen danach gefragt, ob sie eigentlich zu Deutschland gehören oder nicht. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie Mohammed heißen. Da tut sich unter dem Integrationsdenken ein Abgrund auf, der bis weit in die deutsche Geschichte zurückreicht.

Was ist das für ein Abgrund?

Das ethnische Denken der Volkszugehörigkeit. Und wenn diese Analyse des Integrationsparadigmas als Vehikel neovölkischen Denkens stimmt, dann ist die AfD nicht das böse Andere, sondern im Gegenteil: Sie verkörpert exakt die Vorstellungen des politischen Mainstreams, nur in stark zugespitzter Form.

Mohammed wird vielleicht noch auf die Herkunft seiner Ahnen angesprochen. Bei den meisten Nachkommen italienischer Gastarbeiter ist das aber kaum noch der Fall. Zeigt sich hier nicht, dass Integration über lange Zeiträume sehr wohl funktionieren kann?

Es ist Teil des Integrationstheaters, zwischen guten und schlechten Migranten zu unterscheiden. Also zwischen denen, die einen Integrationsbambi bekommen und jenen, die in einer Silvesternacht übergriffig werden. Wenn dagegen auf dem Oktoberfest Vergewaltigungen und sogar Morde geschehen, dann ist das kein Integrationsproblem, und die Aufregung darüber ist vergleichsweise gering. Ähnlich verhält es sich bei banaleren Dingen wie etwa dem Singen der Nationalhymne: Ob du sie singst oder nicht, ist vollkommen gleichgültig, es sei denn, du hast Migrationshintergrund. Dann zeigt sich darin plötzlich, ob du dazu gehörst oder nicht.

Das sind Übertreibungen, die man kritisieren kann. Sie widerlegen doch aber nicht die Notwendigkeit einer guten Integration an sich!

Nein, ich sehe das anders. Die allerorten erhobene Integrationsforderung meint noch einmal etwas anderes als die Frage, ob und wie Menschen, die neu nach Deutschland kommen, sich gut einfinden können. Und da ist das Integrationskonzept mit seiner Vorstellung einer dominanten, relativ homogenen Kultur seiner Substanz nach hochgradig irreal. Denn die deutsche Gesellschaft ist schon immer von Vielfalt geprägt gewesen. Das zeigt sich schon allein an der jeweils unterschiedlichen Bezeichnung dieses Landes: Je nachdem, welche der vielen Volksgruppen gemeint war, hat man es entweder nach den Germanen, den Alemannen oder den Teutonen benannt. Deshalb heißt es noch heute bei den Briten „Germany“ und bei den Franzosen „Allemagne“.

Sie werben deshalb für Ihre Vision einer radikalen Vielfalt. Nun ist der Mensch aber ein soziales Wesen. Wo mehr als zwei Personen zusammenstehen, bilden sich doch ganz automatisch Gruppen!

Ja, aber von dieser Bestimmung der Natur des Menschen auf das Integrationsparadigma zu schließen, finde ich keineswegs zwingend. Wir kennen doch andere Länder, die nicht auf die gleiche Weise um einen solchen Kern der homogenisierten nationalen Zugehörigkeit kreisen. Denken Sie nur an die USA oder Kanada: Dort ist es möglich, dass sehr unterschiedliche Gruppen gleichrangig nebeneinander bestehen können.

Fragen: Johannes Bruggaier
Bild 2: Der jüdische Autor Max Czollek fordert: "Desintegriert euch!"
Bild: Cover

Max Czollek: „Desintegriert euch!“, Hanser Verlag, München 2018, 208 Seiten, 18 Euro.