Leichtes Fieber, Schnupfen, Gliederschmerzen. Es erwischt Frauen wie Männer. Aber es gibt da diesen kleinen Unterschied, und das vertraute Klischeebild ist wieder da: Die Frauen überwinden die fiese Grippe mannhaft, während der Mann – hilfsbedürftig wie ein Baby – ein jammervolles Bild abgibt, zu einem Männlein schrumpft. Keine Ehefrau, die das nicht bestätigte! Kein Mann, der das nicht bestritte! Die Reklameleute reiben sich die Hände. Sie legen einen bärtigen 100-Kilo-Brocken mit Triefnase auf eine Matratze und lassen ihn wimmern: „Schatz, kannst du meine Mama anrufen?“
Wir lachen über dieses Weichei, als Männer wohl wissend, dass uns allen die Sehnsucht nach der umsorgten Kindheit tief in den Knochen sitzt. Das ist nicht neu. Neu sind jedoch das Mitleid und das routiniert heruntergebetete Verständnis, das dem Mann in den sanften Brisen des täglichen Talkshow-Gesäusels entgegenweht oder im Geschlechterrollen-Mantra der Soziolog/innen penetrant aufgezwungen wird: Männer, weint euch mal richtig aus! Ihr dürft das, weil ihr nicht mehr den harten Hund, den lässigen Macho mimen müsst! Denn diese archaischen Relikte haben ausgedient.
Attraktiv ist, wer anpackt
So klar ist das aber gar nicht. Zunächst sieht der Autor den weiblichen Teil seiner Leserschaft auf seiner Seite, wenn er sagt: Ein Mann, der anpackt, der weiß, was zu tun ist, der seinen Job macht, ist ein attraktiver Mann. Selbst feministisch angehauchte Gesellschaftsdeuterinnen räumen inzwischen ein, dass ihnen der von Selbstreflexion zernagte Grübler, der hühnerbrüstige Strickjackenträger, eher ein Grauen ist. Männer Anfang dreißig, die sich zu Kuschelwesen und Sitzpinklern gemacht haben und nicht mehr wissen, wann es Zeit ist, eine Frau zu küssen, ein Haus zu bauen und einen Baum zu pflanzen, die Angst vor Bindung haben und als große Kinder herumschlurfen, können nicht mehr auf Nachsicht hoffen.
Dennoch wollen manche vom Wunschbild des gefühligen Mannes – dem man irgendwann in naivem Überschwang das Nonsens-Prädikat „neuer Mann“ angepappt hat, nicht lassen. Oli Kahn, der einstige Welttorwächter und Held, hat es zu spüren bekommen. Er hatte frei von der Leber weg das Falsche gesagt und prompt Gelbe Karten aus den Medien kassiert.
Unter Tränen vom Feld
Was war passiert? Im letzten Champions-League-Finale Ende Mai hatte Mohamed Salah vom FC Liverpool mit geprellter Schulter unter Tränen den Rasen verlassen, und Dani Carvajal vom Gegner Real Madrid räumte später ebenfalls verletzt mit feuchten Augen das Feld. Kahn hatte bemerkt, was sich auch viele Zuschauer gedacht haben mögen: „Jeder weint immer gleich, wenn er verletzt ist.“ Das könne man „doch in der Kabine machen“.

Diese Sichtweise kann man zwar altfränkisch nennen, aber sie ist vor dem Hintergrund der akrobatischen Schmerz-Komödien eines Neymar legitim. Indessen, so humorlos wie erbittert landete der „Stern“ einen Treffer: „Oli Kahn lästert über heulende Spieler.“ Böser böser Oli. Dabei war der einzige Vorwurf, den man dem Ex-Keeper machen kann, der, dass er die kulturelle Herkunft von Salah und Carvajal und deren lässigen Umgang mit Emotionen unreflektiert gelassen hatte.
Damit klar ist: Natürlich dürfen Männer Gefühle zeigen. „Männer weinen heimlich“ – die Zeile von Herbert Grönemeyer ist heute zwar noch wahr, aber nicht allgemeingültig. Das war sie im Übrigen nie. Wer sich an Goethes Werther im Deutschunterricht erinnert, weiß, dass die Geburt der Empfindsamkeit schon mehr als 200 Jahre zurückliegt und das öffentliche Bekenntnis zu Gefühlen keine Reaktion auf einen bis 1945 überstrapazierten Heroismus und faschistoiden Männerkult ist. Schon die Anhänger der frühen Romantik haben bei lyrischen Vorträgen die ein oder andere Träne zerdrückt und sich angeblich sogar getroffen, um einfach mal zusammen zu weinen. Heute nennt man das Selbsthilfegruppe.
VW-Bulli mit Blumendekor
Wer 40 bis 50 Jahre zurückschaut, sieht Männer, die einen Schwall von Gefühlen vor sich herschieben, den es seitdem so nie wieder gab: VW-Bullis mit Blumendekors, Summer-of-Love-Romantik und Musiker in gestreiften Schlaghosen, die ihre Gitarren in Gefühlswerkbänke verwandelten. Warum strömten in Deutschland bisher mehr als 1,3 Millionen Queen-Fans für „Bohemian Rhapsody“ in die Kinos? Sicher nicht, weil dieser Film analytisch, politisch oder kritisch ist, sondern weil vier Briten – anfangs – unter ihren Haarmähnen mit Leidenschaft das machten, was sie am besten konnten.
Also, was ist nun? Soll jetzt männlich geweint werden? Oder besser gelacht – oder zumindest gelächelt? Etwa über die Männer, die inzwischen alle möglichen Bartlängen durchprobieren? Es gibt ja kaum einen Schauspieler in Deutschland, der nicht plötzlich den Rasierer wegwerfen und die Haare wachsen lassen würde, nachdem die Amerikaner uns dankenswerterweise vorgemacht haben, wie es geht. Doch mancher wirkt – das sei augenzwinkernd bemerkt – umso bubenhafter, je länger und wolliger der Bart heranwächst im Bemühen, erwachsener zu werden als man eigentlich ist.
Der Bart als ironisches Zitat
Immerhin waren auch die sieben Zwerge bärtig. Seien die Bärte nun ironische Zitate oder nicht – manchen Frauen will aufgefallen sein, dass Männer sich heute – liegt’s an der weiblichen Konkurrenz? – viel mehr als früher mit sich und ihrem Körper beschäftigen. Sicher, die Fitness-Studios sind heute voller Pennäler, die ihren Body für künftige Erfordernisse optimieren.
Aber die Politur von Oberflächen ist ja nicht neu. Haben wir vor 35 Jahren nicht die Popper mit ihren Tollen und College-Schuhen verhöhnt? Haben wir, wenn wir zerschlissene Jacken und Röhrenjeans übergestreift und kleine Nickelbrillen auf die Nase geklemmt haben, uns nicht eminent mit uns selbst beschäftigt? Waren wir nur deshalb nicht im Fitness-Studio, weil es einfach noch keine gab? Kann es also sein, dass der neue einfach der alte Mann ist und wir keinen grundlegenden Kulturwandel sehen, sondern nur wechselnde Moden?
Die Männer sind also keineswegs verzweifelt, ängstlich und den Tränen nah. Wer das glaubt, unterliegt einer Täuschung oder den Konstruktionen des Großstadt-Feuilletons, das nur das Entweder-oder zwischen Macker und Schlaffi kennt. Die meisten Männer gehen mit Udo Lindenberg und machen ihr Ding. Und mit knapp 50 Prozent Anteil an der Gesellschaft sterben sie auch nicht aus, sondern sie sind eine echte Volkspartei.