Der Feind ist überall, er ist unsichtbar und er hat das Leben und Sterben in New York innerhalb weniger Tage komplett verändert. Die 8,5 Millionen-Einwohner-Metropole ist zu einem der Hotspots der weltweiten Corona-Hotspots geworden: Über 23.000 Menschen haben sich infiziert, bis Donnerstagabend starben 365, zuletzt mehr als 100 innerhalb von 24 Stunden. Das Schlimmste – da sind sich alle Experten einig – kommt noch. Ärzte und Politiker befürchten, dass die Lage wie in Norditalien eskalieren könnte.
„Es ist apokalyptisch“
Was in den nächsten Tagen auf alle New Yorker Krankenhäuser zukommen könnte, ist im Elmhurst Hospital Center im New Yorker Bezirk Queens schon jetzt schreckliche Realität. Zuletzt führte Dr. Ashley Bray dort innerhalb weniger Stunden Herzdruckmassagen an einer über 80 Jahre alten Frau, einem Mann in den Sechzigern und an einem 38-Jährigen durch, der sie an ihren Verlobten erinnerte. Alle waren positiv auf Corona getestet worden, alle hatten einen Herzstillstand erlitten, alle starben trotz Dr. Brays verzweifeltem Kampf um ihr Leben.
Sie waren nicht die einzigen. Innerhalb von 24 Stunden starben im Elmhurst Krankenhaus 13 Menschen. „Es ist apokalyptisch“, sagte die 27-jährige Allgemeinmedizinerin Bray der New York Times.

Schon morgens um 6 Uhr bildet sich vor dem Krankenhaus eine lange Schlange von Menschen mit Husten, Schnupfen und Fieber. Sie alle wollen sich auf Corona testen lassen. Manche von ihnen stehen bis zum späten Nachmittag an und werden dann nach Hause geschickt, ohne allerdings auch getestet worden zu sein.
Pflegepersonal tragen Mülltüten als Schutzkleidung
Derzeit werden in einem Kongresszentrum in Manhattan unter Hochdruck vier Corona-Stationen mit jeweils 250 Betten errichtet. Zudem wird geprüft, welche Hotels und Versammlungszentren zu provisorischen Krankenhäusern umfunktioniert werden können, Mitte April soll ein Krankenhausschiff der US-Marine mit 1000 Betten in New York festmachen und die überlasteten Krankenhäuser entlasten. Schon jetzt fehlt es fast überall an Beatmungsgeräten und Schutzausrüstung für Ärzte und Pfleger. In den sozialen Netzwerken kursieren Bilder, auf denen Pfleger in einem großen Krankenhaus in Manhattan notdürftig Mülltüten als Schutzkleidung verwenden. Nach unbestätigten Berichten sollen die Leichenhäuser der New Yorker Kliniken bereits Ende der Woche an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen, vor einem Krankenhaus in Manhattan wird mit Kühlzelten und Kühlanhängern schon jetzt ein provisorisches Leichenhaus errichtet.
In New York City und New York State gilt ein verschärfter Ausnahmezustand. Schulen und die meisten öffentlichen Einrichtungen sind seit dem 16. März geschlossen. Der neue Erlass schreibt vor, dass alle nicht essenziell wichtigen Geschäfte – ausgenommen Supermärkte, Apotheken und Tankstellen – geschlossen sein müssen, Versammlungen im Freien sind verboten, Menschen müssen mindestens sechs Fuß (1,82 Meter) Abstand voneinander halten. In manchen Teilen der Stadt patrouillieren Polizisten, um die Einhaltung zu kontrollieren.
Kein Auftritt, kein Geld: Schlag für New Yorks Musik-Szene
Auch Jeffrey Allen hat Corona die Existenzgrundlage genommen. Bis der Virus die Stadt mit voller Wucht erfasste, spielte der 52-Jährige als Bassist für „Moulin Rouge“ und sechs weitere Broadway Shows. Alle sind auf unabsehbare Zeit ausgesetzt. „Ich hatte jede Woche zwei bis acht Auftritte. Spiele ich nicht – kriege ich nichts!“ Der Musiker hat auch die Terroranschläge vom 11. September in New York erlebt. „Unmittelbar danach sind auch ein paar Auftritte abgesagt worden. Corona ist für mich viel schlimmer. Denn ich weiß nicht, wann ich endlich wieder auftreten und Geld verdienen kann“, sagt der Musiker.
Die massiven Einschränkungen werden voraussichtlich Hundertausende New Yorker in Armut stürzen oder ihre Armut verschärfen. Wurden Menschen mit blauen Einweghandschuhen und Gesichtsmasken vor wenigen Tagen in New York noch oft spöttisch belächelt, ziehen sie jetzt neidische Blicke auf sich. In den meisten Geschäften sind sie längst vergriffen, die Lieferzeiten bei Internetversandhändlern betragen meist mehrere Wochen, die Preise sind teilweise explodiert, ärmere New Yorker können sich die einfachen Masken schlichtweg nicht mehr leisten.
Leichte Lichtblicke am Horizont
Zwar gehört die Zahl der neuesten Coronafälle und Todeszahlen für viele mittlerweile zur morgendlichen Pflichtlektüre, doch die notorisch optimistischen New Yorker nehmen auch kleine Lichtblicke zur Kenntnis. Auch wenn viele Ultrareiche sich teilweise mit Privatflugzeugen und Helikoptern in ihre luxuriösen Zweitwohnsitze auf Long Island zurückgezogen haben, halten viele New Yorker gerade jetzt zusammen. Auf handgeschriebenen Zetteln an Ampeln und in sozialen Netzwerken bieten sie gefährdeten Nachbarn an, sie mit Lebensmitteln zu versorgen und verbreiten Durchhalteparolen. New York lässt sich nicht unterkriegen.