Der 32-jährige Hermann Müller aus der Thurgauer Gemeinde Tägerwilen machte 1882 als Direktor der Pflanzenphysiologischen Versuchsanstalt in Geisenheim im Rheingau die ersten Kreuzungsversuche mit Riesling- und Silvanerreben.
Als Müller neun Jahre später im schweizerischen Wädenswil (ZH) die damalige Versuchsstation für Obst-, Wein- und Gartenbau übernahm, pflanzte er dort 150 seiner besten Stecklinge an. Nach zahlreichen Weiterzüchtungen bis ins Jahr 1913 entstand eine frühreifende, ertragsreiche und feinfruchtige Sorte.
Durch Müllers Schüler Gustav Schmid kam die Rebe auf den Arenenberg, wo er die Thurgauer Fachstelle Obst- und Rebbau leitete. Durch seine Degustationen wurde der Wein bis über die Landesgrenze hinaus bekannt.
Der Elbling war vielen zu sauer
Johann Baptist Röhrenbach, in Immenstaad am Bodensee auf dem Schloss Kirchberg markgräflicher Gutsverwalter und Wirt der Schlossgaststätte, lernte die neue Rebsorte bei einem Gesangvereinsausflug in Zürich bereits vor dem Ersten Weltkrieg kennen.
Da es in den 1920er-Jahren am Bodensee zahlreiche Missernten gab und der saure Elbling dem Bodenseewein einen schlechten Ruf eingebracht hatte, wollte Röhrenbach die Müller-Thurgau-Rebe in den Rebberg von Schloss Kirchberg holen.

Der Markgraf von Baden wollte die neue Rebsorte aber nicht, weil das Saatgut-Handelsgesetz eine Einfuhr über die Reichsgrenze nicht erlaubte und er auch keine Notwendigkeit dafür sah. Johann Röhrenbach beschloss, die Reben über den See zu schmuggeln. Mit dem Fischer Josef Ainser, den er vom Cegospielen in der Schlossgaststätte kannte, heckte er einen Plan aus, den ihre beiden Söhne Albert und Gottfried ausführen sollten.
Heimlich über den See geschmuggelt
Im April 1925 ruderten der 22-jährige Albert Röhrenbach und der drei Jahre ältere Gottfried Ainser in einer Nacht über den See und nahmen unterhalb vom Arenenberg die bereitgelegten Pfropfreben entgegen. Nach einer über achtstündigen Ruderfahrt, bei der sie im Konstanzer Trichter zweimal die Zollstation passierten, legten die beiden jungen Burschen wieder in Hagnau an und Johann Baptist Röhrenbach konnte die Reben in den Weinbergen von Schloss Kirchberg heimlich anpflanzen.

Nachdem der Schmuggel aufgeflogen war, durfte Röhrenbach die Müller-Thurgau-Trauben nicht wie alle anderen Trauben des Markgrafen zum Keltern nach Salem bringen, sondern musste die Arbeit selbst auf dem Kirchberg erledigen. Röhrenbach hatte es dem guten Verhältnis zwischen den Familien des Markgrafen und Röhrenbach zu verdanken, dass er nicht entlassen wurde. Den Wein verkaufte Röhrenbach in der Schlossgaststätte teurer als den Edelwein. Der Wein fand schnell Anerkennung und ein Jahr später wurden nochmals 400 Pfropfreben geschmuggelt.
Erst die Masse, dann die Ertragsbegrenzung
Bis Mitte der 1950er-Jahre war der Elbling immer noch die vorherrschende Traubensorte am Bodensee und es dauerte fast 30 Jahre, bis auf deutscher Seite der Markgraf von Baden den Müller-Thurgau im großen Stil anpflanzte. Der Müller-Thurgau bringt auf nährstoffreiche Böden und in kühlen Lagen hohe Erträge und unkomplizierte Weine hervor.

Johann Baptist Röhrenbach durfte den Anfang der Erfolgsgeschichte noch erleben, ehe er im Jahr 1956 starb. Der Müller-Thurgau war in Deutschland von 1975 an zwanzig Jahre lang mit einer Anbaufläche von rund 25 Prozent die meist verbreitetste Rebsorte. Aufgrund der einfachen Struktur der Weine bekam der Massenträger mit den Jahren aber ein schlechtes Image. „Er wurde degradiert in den Schoppen“, bemerkte Matthias, der Enkel von Johann Röhrenbach, der in Immenstaad mittlerweile in vierter Generation Müller-Thurgau anbaut.
In den 1980er-Jahren wurde die Mengenbegrenzung eingeführt. Sie wirkte sich für den Müller-Thurgau sehr positiv aus. Dann kamen die jungen und dynamischen Winzer und verhalfen ihm in den letzten Jahren zu einer wahren Renaissance.
Schiffahrt zu seinen Ehren
Im Jahr 2018 waren in Deutschland rund 12 Prozent der gesamten Anbaufläche mit Müller-Thurgau-Reben bestockt. Das Berufsbildungszentrum Arenenberg hat die Geschichte des Müller-Thurgaus zusammen mit der Familie Röhrenbach wieder aufleben lassen und will sie jedes Jahr am Freitag nach Christi Himmelfahrt mit der Schifffahrtgesellschaft Untersee und Rhein mit einer speziellen Themenfahrt neu erlebbar machen. Die Jungfernfahrt im Mai diesen Jahres war innerhalb kürzester Zeit ausgebucht.
Wirrwarr um den Namen
Hermann Müller benannte seine Neuzüchtung nach seinem Spitznamen. Der Schweizer wurde im Rheingau Müller-Thurgau genannt, weil es zu jener Zeit in Würzburg ebenfalls einen erfolgreichen Rebenzüchter gab, der Müller hieß. In der Schweiz nannte er die neue Rebsorte allerdings Riesling x Silvaner, weil er nicht wollte, dass die Kreuzung in seinem Heimatland unter seinem Namen bekannt wird. Nachdem durch gentechnische Untersuchungen nachgewiesen wurde, dass die Kreuzungspartner Riesling und Madeleine Royal sind, darf die Bezeichnung Riesling x Silvaner nicht mehr verwendet werden, weil das x für die Kreuzung der beiden Sorten steht. Aus verkaufsstrategischen Gründen wurde der Wein von Luxemburg bis Baden auch unter dem Namen Rivaner verkauft. Im Schweizer Grenzgebiet wird der Riesling-Silvaner schlicht Riesling genannt, was die Weintrinker von Mosel und Rheinland gar nicht mögen. Immerhin war es ihr Riesling, der 1995 den Müller-Thurgau von der Spitze der deutschen Weine verdrängte.