Wenn Lidia Rusu Fläschchen und Milchpulver auspackt, spürt sie die kritischen Blicke. Manchmal wird sie dann angesprochen, „ob sie nicht wisse, wie wichtig Stillen sei?“ „Das war mir schon sehr unangenehm“, berichtet die Worblingerin, die vor der Geburt Filialleiterin eines Bistros war.
Die 28-Jährige würde ihre Tochter Mila Rose (fünf Monate) gerne voll stillen, aber ihre Milch reicht nicht aus. Ihr Ehemann ermutigt sie: „Mach dich nicht verrückt.“ Auch dann nicht, wenn andere behaupten, das müsse doch klappen, sie mache eben etwas falsch. Sie hat sich daran gewöhnt: „Aber an manchen Tagen bin ich sehr traurig.“
Wer nicht stillt, muss sich oft Vorwürfe anhören
Mutterbrust oder Fläschchen? Dogmatische Antworten auf diese Frage spalten heute eine Generation Frauen in Helikoptermamas und Rabenmütter. Dreijährige an der Brust befremden uns. Dennoch: Wer nicht stillt, hört oft Vorwürfe. Häufig greifen Frauen wegen Stillproblemen zum Fläschchen – gefolgt von Stress im Haushalt. Warum aber ist Stillen so wichtig?
Fakt ist, dass Muttermilch einzigartig ist. Je länger eine Frau stillt, umso geringer ist statistisch gesehen das Risiko für das Kind im Laufe des Lebens an Diabetes und starkem Übergewicht zu erkranken. Auch Mittelohrentzündungen und Magen-Darminfekte treten deutlich seltener auf.
Das Immunsystem wird gestärkt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt durchaus, spätestens ab dem 7. Monat Beikost zuzufüttern – aber eben auch eine zusätzliche Gesamtstilldauer von ein bis zwei Jahren oder darüber hinaus.
Nüchtern gerechnet kostet die Flaschennahrung außerdem etwa 1000 Euro im Jahr. Stillen kostet Zeit, Geduld. Und ist – so steht es zumindest in vielen Ratgebern – obendrein wichtig, für die Bindung zum Baby. Das eigene Kind an der Brust zu stillen, kann es ein perfekteres Bild einer Mutter geben?
Von falschen Idealen
Dieses Ideal, Conny P. (40) hat es so nie empfunden: „Ich habe mich einfach nicht wohl gefühlt, hatte keine Glückshormone.“ Ihren vollen Namen möchte sie nicht nennen. Die zweifache Mutter hält jeweils bis zum vierten, fünften Monat durch.
Teils pumpt sie die Milch ab, später gibt sie zusätzlich Flaschennahrung. So kann sie – mit der Unterstützung ihrer Mutter und einer Aupair – wieder arbeiten gehen. Trotzdem muss sich die Konstanzerin oft rechtfertigen: „Ein Kind unter einem Jahr abzustillen, ist für viele echt ein Problem.“
Der Druck, sich zu rechtfertigen
Dabei war das früher anders. Fragen Sie mal in Ihrem Bekanntenkreis, wer gestillt wurde und wer nicht. Die heutige Elterngeneration hing quasi komplett an der Flasche. Denn ab den 1960er-Jahren sorgte moderne Kunstmilch für einen Fläschchen-Hype in deutschen Kreißsälen – und wurde zum Zeichen für Wohlstand. Organisationen wie die „La Leche Liga“ und der WHO-Kodex haben diesen Trend seit den 1980er-Jahren wieder umkehren können.
Heute zumindest sind gestillte Kinder in der deutlichen Mehrheit. Knapp 90 Prozent aller Frauen geben nach der Geburt die Brust. Laut Nationaler Stillkommission sind es nach zwei Wochen immerhin noch 75 Prozent und nach vier Monaten etwa 34 Prozent, die voll stillen. Weitere 24 Prozent stillen, füttern aber die Flasche oder Brei zu. Deutsche Mütter liegen damit im europäischen Vergleich im Mittelfeld.
Nicht alle Stillprobleme können behoben werden
Studien belegen: Meist sind es junge Mütter, Raucherinnen oder Frauen mit geringerer Bildung, die seltener oder kürzer die Brust geben. Dennoch: Jede Mutter hat mit ihren ganz persönlichen Umständen zu kämpfen. Viele Stillprobleme können behoben werden, aber nicht alle.
Als Shari-Feh Straub (27) wieder schwanger ist, versiegt die Milch für das erste Baby. Der zweiten Tochter gibt sie mit acht Wochen die Flasche. „Ich hatte große Schmerzen und musste abstillen“, beschreibt die Altenpflegerin aus Allensbach enttäuscht.
Aleyd von Gartzen, Beauftragte für Stillen und Ernährung des Deutschen Hebammenverbands, sieht trotz aller Debatten immer noch Bedarf an einer besseren Beratung von Müttern: „Damit sie zumindest eine gut informierte Entscheidung treffen können oder bei Problemen nicht alleine gelassen werden.“ Neue Forschungsprojekte wie „Becoming Breastfeeding Friendly“ möchten die Stillraten weiter steigern.
Entscheidung gut überlegt
Stefanie Roniger (36) aus Schopfheim hat ihren zweiten Sohn gar nicht gestillt. Sie trifft diese Entscheidung wohlüberlegt, bevor sie in den Kreißsaal geht. „Der Stressfaktor war mein Hauptgrund“, sagt sie. Unter der Woche ist sie mit den Kindern allein.
„Mein erster Sohn war schon ein langsamer Trinker. Mit drei Monaten wurde er krank und hat die Brust verweigert. Ich musste zufüttern und habe ihn so als zufriedener empfunden“, beschreibt die frühere Filialleiterin einer Supermarktkette.
Sie ist kein Einzelfall. Es fehlt an Unterstützung früherer Großfamilien – auch an Vorbildern. Es ist ein schmaler Grad zwischen Ermutigung und Druck. „Ich bin von der immensen Bedeutung des Stillens für die Mutter und das Kind überzeugt, deshalb setze ich auf frühe Beratung in der Schwangerschaft.
Gelassenheit neu entdecken
Aber wenn eine Frau abstillen möchte, unterstütze ich sie natürlich, auch wenn mir innerlich das Herz blutet“, beschreibt Rita Zoller-Humbert, Krankenschwester und Stillberaterin aus Allensbach. „Nähe und Liebe sind das Wichtigste für das Kind“, erklärt sie.
Die gleiche Erfahrung hat Conny P., bei der die Glücksgefühle beim Stillen ausblieben, gemacht. Zu ihrer Tochter (4) und ihrem Sohn (2) hat sie eine enge Bindung. „Ich muss mich als Mutter wohlfühlen. Wenn ich nur gestresst bin, überträgt sich das auf meine Kinder“, beschreibt die Betriebswirtin.
Wir müssen die Gelassenheit neu entdecken: Die Entwicklung eines Kindes ist wie ein komplexes Mosaik. Bindung entsteht nicht allein durch Stillen. „Es ist ein Druck, den sich Mütter oft selbst machen.
Sie bekommen ihre Kinder heute meist später, alles muss perfekt geplant sein“, erklärt Marja Niklander, Psychologin bei Pro Familia in Konstanz. Sie ermutigt Frauen, ihren eigenen Weg zu finden. Der Hunger nach Nähe, er stillt sich aus verschiedenen Quellen.
Fakten zum Stillen
- Weltweit könnten nach Einschätzung von Experten 95 Prozent aller Frauen ihrem Kind bei richtiger Beratung die Brust geben.
- In Afrika stillen Frauen ihre Kinder oft mehrere Jahre. In Deutschland beginnen nach der Geburt 90 Prozent aller Mütter zu stillen. Nach sechs Monaten stillt noch etwa die Hälfte.
- Zwei Drittel aller Mütter in Deutschland haben schon in der Öffentlichkeit gestillt. Sechs Prozent berichteten dabei von negativen Reaktionen. (bea)