„Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett“ hat Bill Ramsey einst gesungen; das war 1962. Da die Dame bestimmt kein Einzelfall war, liegt die Vermutung nahe: Der Krimi war schon immer der Deutschen liebstes Kind; zumindest in den letzten gut 60 Jahren.
Wie in den USA wurde das Genre laut Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger auch im deutschen Fernsehen Ende der Fünfziger zu einem festen Bestandteil des Programms, anfangs noch mit Einzelstücken im Rahmen von Reihen wie „Stahlnetz“ (ARD, ab 1958).
Unvergessen sind auch die Francis-Durbridge-„Straßenfeger“, allen voran der Sechsteiler „Das Halstuch“ (1962). Wöchentliche Sendetermine gab es zunächst jedoch nur im ARD-Vorabendprogramm. Die erste deutsche 20.15-Uhr-Serie war ab 1969 „Der Kommissar“, 1970 startete der „Tatort“.
Die Hälfte aller Filme sind Krimis
Damit, so Hallenberger, „war das Genre in der Hauptsendezeit gesetzt, nun begann eine Verstetigung des Krimiangebots mit immer mehr Sendeplätzen. Es wird kein Zufall sein, dass erst ab dieser Zeit auch die meisten deutschen Haushalte einen eigenen Fernsehapparat besaßen.“
Mittlerweile hat diese „Verstetigung“ erhebliche Ausmaße angenommen. Laut einer gemeinsamen Studie der Medienforschungen von ARD und ZDF bestand das fiktionale Angebot der acht großen Sender 2021 fast zur Hälfte aus Krimis; 89 der meist gesehenen hundert Filme und Serien drehten sich um Verbrechen.
Mit Ausnahme von Vox spielt das Genre bei den Privatsendern jedoch eine deutlich geringere Rolle als bei ARD und ZDF, was im Umkehrschluss heißen könnte: Erstes und zweites Programm müssten überwiegend aus Krimis bestehen.
Zumindest für die ARD, teilt ein Sprecher der Programmdirektion mit, sei dieser Eindruck falsch: „Krimis nehmen im Angebot des ‚Ersten‘ keine herausragende Position ein. 2021 hatten die Informationsinhalte mit 47 Prozent den weitaus größten Anteil.“ Die Antwort des ZDF lautet ähnlich. Immerhin wird eingeräumt, dass Krimis „eine relevante Rolle“ spielten.
Aber warum ist das so? Der renommierte Drehbuchautor Benedikt Röskau („Contergan“) argumentiert erst mal aus Sicht der Sender: ARD und ZDF müssten die Pflichtgebühren nicht zuletzt durch einen hohen Zuschauerzuspruch rechtfertigen, und das gehe nun mal verlässlich mit Krimi.
„Ein wunderbarer Bastelkasten“
Im Unterschied zu anderen Genres zeichne sich der Krimi laut Hallenberger zudem durch den Vorteil einer außerordentlichen Anschlussfähigkeit aus: „Das ist ein wunderbarer Bastelkasten, weil sich rund um das narrative Grundmuster praktisch alle nur denkbaren Geschichten erzählen lassen.“
Nicht zu unterschätzen, sagt Joe Bausch, pensionierter Regierungsmedizinaldirektor der JVA Werl (NRW) und Darsteller des Rechtsmediziners im „Tatort“ aus Köln, sei auch die Zuverlässigkeit: „Krimis haben eine einfache Dramaturgie. Der ‚Tatort‘ beginnt mit einem Leichenfund, die Ermittlungen führen zu einem ersten Verdächtigen, der aber meistens nicht der Täter ist. Diese Verlässlichkeit ist uns quasi von Kindesbeinen antrainiert“, sagt der Experte.
Bausch, der sich in mehreren Büchern mit der Faszination des Verbrechens beschäftigt hat, betrachtet die ausgeprägte Vorliebe der Menschen für Krimis „als Zeichen dafür, wie gut es uns geht. Schon in der Vergangenheit waren Kriminalgeschichten immer dann besonders gefragt, wenn die Leute keine materiellen Sorgen hatten.“
Kaum existenzielle Konflikte
Auch Röskau interpretiert die Faszination des Publikums an einem maximal existenziellen Konflikt wie dem Mord als Beleg dafür, „dass wir in unserem sehr ereignisarmen Land kaum noch existenzielle Konflikte haben.“ Darin sieht er zudem den Grund dafür, warum das zentrale Verbrechen meist ein Mord sei und nicht mehr wie früher auch mal ein Raub oder ein Betrug, „weil bei solchen Geschichten die existenzielle Komponente fehlt“.
Krimis, ergänzt Hallenberger, „sind nie banal, denn es geht stets um Bedrohung und Gefahr, um Leben und Tod. Gerade in Deutschland ist eine gewisse Ängstlichkeit ohnehin sehr verbreitet, aber Krimis signalisieren: Es gibt jemanden, der sich kümmert und die Ordnung wiederherstellt.“
Oliver Wnuk: „Mich reizt das Genre überhaupt nicht“
Der aus Konstanz stammende Schauspieler Oliver Wnuk verkörpert seit elf Jahren einen Kommissar in der ZDF-Reihe „Nord Nord Mord“. Der Reiz am Gruseln sowie die Faszination der menschlichen Psyche und deren Abgründe sei offenbar tief in der DNS des TV-Zuschauers verankert, sagt er.
Sein eigener Krimibedarf sei durch die Mitwirkung in verschiedensten Krimiformaten aber gedeckt: „Meine persönlichen Sehgewohnheiten brauchen keine Gewalt und Brutalität. Als Darsteller eines TV-Kommissars interessiert mich auch eher das Zwischenmenschliche, das Leichte, das Amüsante.“
Wnuk nutzt die Zeit zwischen seinen Engagements, um Romane und Drehbücher („Das Leben ist kein Kindergarten“) zu verfassen, doch als Autor, versichert er, „reizt mich das Genre überhaupt nicht.“ Trotzdem schließt er sich selbst ausdrücklich mit ein, wenn er sagt: „Wir haben eine gewisse Verantwortung, welche Formen der Gewalt wir zeigen und darstellen. Vielleicht bringen wir verlorene Seelen auch auf Ideen, auf die sie sonst gar nicht gekommen wären.“
Drehbuchautor Röskau wiederum hält es ohnehin für „absurd, dass in einer Woche im TV mehr Morde geschehen als in Deutschland in einem ganzen Jahr“. Hier werde offenbar „eine Intensität der Konflikte erschaffen, die wir in unserer komplettversicherten Welt dringend brauchen“. Der Nervenkitzel, die Spannung, das Rätsel: „All das lässt uns beim Anschauen eines Krimis lebendig fühlen.“