Ihr Leben steht plötzlich still. Ihr Bauch und die Arme verkrampfen sich, die Hände gehorchen ihr nicht mehr, die Beine sind schwer wie Blei, aus ihrem Körper weicht jede Kraft. Es ist der 5. Mai 2016, ein sonniger Frühlingstag. Katharina Afflerbach war mit einem Freund wandern, anschließend im Biergarten und hat den Tag genossen.
Erst abends nach ihrer Rückkehr schaltet sie ihr Handy wieder ein. Eben hat sie die Nachrichten ihrer Eltern und ihrer Geschwister darauf gelesen. Ihr Bruder Flo, wie sie Florian liebevoll nennt, ist tot. Gestorben mit 35 Jahren. Ein 81-jähriger Mann hat ihn überfahren.

Die heute 44-Jährige aus Köln hat vier Geschwister, ihr Bruder Flo ist der jüngste, Architekt und talentierter Zeichner, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen und der TU Dortmund arbeitet und mit seiner Freundin zusammenlebt. „Wenn mein Bruder einen Raum betreten hat, haben alle Leute gestrahlt. Er brachte eine unglaubliche Energie mit, war bodenständig, humorvoll und lebenslustig.“
Sie ruft sofort ihre Eltern und ihre Geschwister an, ihren Freund Johann und schreit wie noch nie in ihrem Leben: „Johann, Johann, Johann, Flo ist tot, ja, nein...“ Sie fährt von Köln in ihre Heimat ins Siegerland nach Kreuztal, wo sie aufgewachsen ist. Flos Leichnam wird zur Untersuchung in die Gerichtsmedizin nach Dortmund gebracht. „Zu wissen, dass der geliebte Mensch über die Autobahn gefahren wird und wieder zurück, und nicht zu wissen, was sie mit ihm machen und wann er zurückkommt, das war ganz furchtbar“, erinnert sich Katharina Afflerbach.
Als 2012, vier Jahre zuvor, das Kreuzfahrtschiff „Costa Concordia“ in Italien kenterte, arbeitete sie noch in der Marketingabteilung von „Costa Kreuzfahrten“ in Hamburg. 32 der 4200 Insassen kamen damals ums Leben, zwölf von ihnen Deutsche. Von lebenslustiger Werbung schaltete sie auf Krisenmanagement um, konfrontiert mit dem Tod, der Trauer und den Erlebnissen der Menschen.

„Damals begann ich zu ahnen, was es bedeutet, wenn das Schicksal unvorbereitet über dich hereinbricht“, sagt sie. „Jetzt fühlte ich mich wie gelähmt, ein bleierner Mantel lag auf meinen Schultern, der alle Farben und das Licht auslöschte.“ Plötzlich wusste sie, wie unvorstellbar tief der Schmerz dringt und dass die Trauer einen körperlich umstößt.
Die Geste einer Kindergartenfreundin kurz nach dem Tod ihres Bruders wird sie nie vergessen. Sie war ziellos durch ihren Heimatort gelaufen und stand plötzlich vor deren Haustür. „Sie saß einfach nur neben mir und hat meine Hand gehalten. Als sie mich zur Haustür brachte, hat sie sich entschuldigt, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte“, erinnert sich Katharina Afflerbach.
„Sie hat meinen Schmerz mit ausgehalten“
Doch das Allerschönste sei gewesen, dass sie einfach dasitzen konnte und sich gehalten fühlte. „Ich glaube, danach sehnen sich viele Betroffene“, sagt sie. „Für manche Dinge gibt es in dieser Phase keine tröstenden Worte. Sie hat meinen Schmerz nicht überspielt, sondern ihn mit ausgehalten.“
Als sie 2014 ihren ersten Sommer auf einer Alp in der Schweiz verbrachte, hatte sie zuvor ihren Job gekündigt. Der Aufenthalt in den Bergen war damals als Übergang gedacht in ihr neues Leben als Selbständige. Heute arbeitet sie als Texterin und berät Kunden aus der Hotellerie und Existenzgründer. Drei Wochen nach dem Tod ihres Bruders 2016 fuhr sie wieder auf die Alp. Es war ihr dritter Sommer dort.

Als ihr Bruder starb, hatte sie ihre Wohnung längst für vier Monate untervermietet, alles war geplant. „Die Alp war Segen und Fluch zugleich“, sagt sie mit ruhiger, gefasster Stimme. „Ich hatte das Glück in der Natur zu sein und das an meinem persönlichen Kraftort in den Bergen.“ Dort fühlte sie sich geschützt und behütet. „Die Ziege schleckte mir die salzigen Tränen von den Wangen, weil sie ihr gut schmeckten. Rex, der Hund und mein bester Freund dort, legte seine Pfoten auf mich, wenn er spürte, dass ich traurig war.“

Gleichzeitig fiel es ihr unendlich schwer, mit ihrer Trauer so weit weg von ihrer Familie und dem Friedhof zu sein. „Das hat sich wie Verrat angefühlt. Mein Bruder muss allein in dieser dunklen, kalten Erde liegen und ich bin Hunderte Kilometer weg und kann ihn noch nicht einmal besuchen.“
Der strenge Arbeitsrhythmus half ihr. Der Tag war durchgetaktet mit körperlich anstrengender Arbeit, morgens um 5.30 Uhr musste sie im Stall stehen. Wieder zu Hause, zurück in ihrem Alltag, in der Selbständigkeit, hatte sie keinen Halt, keinen Rhythmus mehr. Es gab Nachmittage, an denen sie alle Kraft verließ und sie sich ins Bett legen musste, weil sie nicht mehr konnte. Geholfen haben ihr anfangs kleine, lebenspraktische Gesten: eine tröstliche Berührung, eine SMS, eine Postkarte: „Ich denke an dich, ich bin für dich da“ – mehr braucht es nicht.
Der 81-jährige Autofahrer hatte ein körperliches Gebrechen und verlor deshalb die Gewalt über sein Auto. Katharina Afflerbachs Bruder trug keine Schuld an dem Unfall. Fühlte sie Wut auf diesen Mann? „Zum Glück habe ich dieses Gefühl aus Selbstschutz sofort loslassen können“, sagt sie. Mit Wut oder Hass im Herzen hätte sie innerlich nie ihren Frieden damit machen können. „Ich konzentriere mich auf das Gefühl der Dankbarkeit, Flo so viele Jahre in meinem Leben gehabt zu haben.“
In der Coronakrise begann sie ihr Buch „Manchmal sucht sich das Leben harte Wege“ zu schreiben: Darin erzählt sie von Menschen, die einen Schicksalsschlag erleiden mussten und wie sie damit umgingen. Sie entdeckte Gemeinsamkeiten zu ihren eigenen Erfahrungen: Anfangs die Niedergeschlagenheit, die Erstarrung, die verzweifelte Suche nach Halt. Alle Betroffenen berichten, dass es in Ordnung ist, wenn jemand nicht die perfekten Worte findet. „Es tut mir so leid, ich fühle mit dir, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, ist eine aufrichtige Geste und ein wunderschöner Anfang“, sagt die 44-Jährige.
Der enge Zusammenhalt mit ihren Eltern, Geschwistern und Freunden halfen ihr, auch Yoga und das Wandern in der Natur. Durch ihre Füße konnte sie die Schwermut an den Boden abgeben.
Bis heute holt die Trauer sie ein – ganz plötzlich. „Die Spirale der Gefühle kann schneller Fahrt aufnehmen, als wir uns das vorstellen können“, schreibt sie in ihrem Buch. „Das ist Trauer. Und Trauer braucht Zeit.“