Ein Einzelzimmer in einer Münchner Klinik, 7 Uhr morgens. Die Krankenschwester rauscht herein, macht das Licht an, öffnet Fenster und Vorhänge und fragt: „Und – wie geht‘s uns denn heute?“ Im Bett liegt eine sterbende Frau.

Dieses Erlebnis geht Claudia Bausewein bis heute nicht aus dem Kopf. Das war 1984, sie hatte gerade Abitur gemacht und sich für ein freiwilliges soziales Jahr auf der internistischen Station der Klinik entschieden.

Was sie dort erlebte, die Hilflosigkeit und mangelnde Empathie im Umgang mit Sterbenden, die teils vor Schmerzen schrien, haben sie fürs Leben geprägt. Die junge Frau merkte, dass sie sich gerne um diese todkranken Menschen kümmerte – und sie begann Medizin zu studieren.

Heute, mehr als 30 Jahre später, ist sie eine der führenden Palliativmedizinerinnen Deutschlands. Ihr Terminkalender ist eng getaktet, doch die 55-Jährige nimmt sich Zeit für ein Gespräch am Telefon. Lebhaft und ohne Umschweife beginnt sie zu erzählen.

„Es gibt so vieles, was wir neben der Medizin tun können“: Claudia Bausewein, Direktorin der Klinik und Poliklinik für ...
„Es gibt so vieles, was wir neben der Medizin tun können“: Claudia Bausewein, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin am Klinikum der Universität München, gehört zu den führenden Palliativmedizinerinnen in Deutschland. | Bild: Droemer Verlag

Als sie Anfang der 90er Jahre für einige Monate als Assistenzärztin in einem Hospiz in Oxford arbeitete, gab es hierzulande nur vereinzelt Palliativstationen. Ihr späterer Chef in der städtischen Klinik München-Harlaching forcierte die Idee einer Palliativstation, ebenso ein Stadtrat. Doch es gab keine Erfahrungen.

„Mit meinen fünf Monaten in Oxford und zwei Jahren Staatsexamen war ich mit gerade mal 30 Jahren eine der erfahrensten Palliativmedizinerinnen in Deutschland“, sagt sie. Zwei Jahre später, 1997, wurde die Palliativstation eröffnet, die erste konfessionell ungebundene, kommunale Einrichtung Münchens.

So viel Lebensqualität wie mögich

Inzwischen gibt es gute Therapien, um die letzte Zeit des Lebens so gut wie möglich zu gestalten, Schmerzen zu nehmen, Ängste zu lösen und die Sterbenden auf den Palliativstationen persönlich zu begleiten. Seit 2012 hat Claudia Bausewein den Lehrstuhl für Palliativmedizin an der Universität in München inne, seit 2013 leitet sie dort als Direktorin die Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin.

Auf ihrer Station werden jedes Jahr 300 Menschen stationär betreut, mit den ambulanten Patienten sind es 1500 bis 1700. Ihre Patienten leiden an einer unheilbar fortschreitenden oder weit fortgeschrittenen Erkrankung, oft ist es Krebs. Hauptziel der Begleitung ist es, so viel Lebensqualität wie möglich zu erhalten.

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Doch warum ist der Tod immer noch ein Tabu? Die Menschen setzten sich nicht gerne mit ihrer Endlichkeit auseinander, sagt die Ärztin. Geld und Freizeit, ein teures Auto, Statussymbole – das verstünden viele unter Lebensqualiät. Krankheit, Leiden und Alter passten dazu nicht. Viele Menschen wünschten sich, wenn es soweit ist, tot umzufallen, doch die meisten sterben an einer chronischen oder längeren Erkrankung.

„Es wäre sinnvoll, sich mit dem Lebensende auseinanderzusetzen“, sagt sie, „damit man nicht komplett überfahren wird von solchen Situationen.“ Deshalb hat sie auch das Buch „99 Fragen an den Tod“ geschrieben, in dem sie Fragen beantwortet, die Patienten und Angehörige immer wieder stellen.

Claudia Bausewein/Rainer Simader: „99 Fragen an den Tod – Leitfaden für ein gutes Lebensende“, Droemer-Verlag, 288 ...
Claudia Bausewein/Rainer Simader: „99 Fragen an den Tod – Leitfaden für ein gutes Lebensende“, Droemer-Verlag, 288 Seiten, 20 Euro | Bild: Droemer Verlag

Claudia Bausewein beantwortet Fragen von Angehörigen

Claudia Bausewein erlebt Menschen, die wissen, wie viel Zeit ihnen bleibt, und andere, die den Tod verdrängen. Stets versucht sie, ihre Patienten dort abzuholen, wo sie stehen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Einmal in der Woche unterhält sie sich mit ihnen auch im Beisein angehender Ärzte, damit diese lernen, wie man in solch schwierigen Situationen auf andere zugeht.

Ihr Blick auf das Leben hat sich durch ihre Arbeit verändert, sie lebt bewusster und ist dankbar für das glückliche Leben, das sie führt: „Ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, Menschen, die ich liebe, um mich zu haben, weil ich weiß, wie schnell sich das ändern kann.“

Sie stellen Fragen zusammen, die Schwerkranken und betroffenen Angehörigen auf der Seele brennen: Claudia Bausewein und Rainer Simader, ...
Sie stellen Fragen zusammen, die Schwerkranken und betroffenen Angehörigen auf der Seele brennen: Claudia Bausewein und Rainer Simader, Physiotherapeut aus Wien, der viele Jahre im häuslichen Umfeld von Patienten tätig war und in einem der bekanntesten Hospize weltweit, dem St. Christophers Hospice in London, gearbeitet hat. | Bild: Droemer Verlag

Wann sie nur Ohnmacht fühlt

Doch auch sie gerät an Grenzen angesichts der Schicksale, die ihr begegnen. Die schlimmste Situation, an die sie sich erinnert, war eine junge Frau, die während der Schwangerschaft an Krebs erkrankte. In der 25. Schwangerschaftswoche bekam sie ihr Kind. Kurz darauf starb sie. „Das ist pure Ohnmacht“, sagt Bausewein. „Dass jemand stirbt, können wir nicht verhindern. Doch es gibt so vieles, was wir neben der Medizin tun können.“ Die Frau konnte ihr Kind noch einmal sehen. Andere wünschen sich, im eigenen Bett zu schlafen oder bei einem Glas Rotwein auf der Terrasse den Abend zu verbringen.

Anmerkung der Redaktion

Dieser Inhalt erschien erstmals im November 2020 auf SÜDKURIER Online.