An einem langen Tisch im Nebenzimmer eines Tübinger Gasthauses sitzt ein gutes Dutzend Menschen und stempelt Hunderte von Postkarten. Die individuellen Stempel-Motive sind winzige Rennschnecken, Brieftauben, Bücher, Globusse, Kaffeetassen, Schmetterlinge und Herzen.

Die Postkarten, die von einigen Teilnehmern speziell für diesen Tag und den Ort des Treffens entworfen wurden, sind meist kunstvoll mit Stickern und bunten Dekoklebebändern – sogenanntem Washi-Tape – verziert und bereits mit ausgefallenen Briefmarken frankiert. Wer macht sich noch diese Mühe? Die Antwort: Hier ist eine Gruppe von sogenannten Postcrossern in Aktion.

Die Idee dahinter ist einfach: Man meldet sich kostenlos in der Online-Postcrossing-Community an, erstellt ein Profil mit ein paar persönlichen Angaben wie Alter und Interessen, bekommt eine Adresse zugeteilt und schickt dann eine auf das Profil des Empfängers abgestimmte Karte an diese Adresse.

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„Wie das Öffnen von Türen zur Welt“

Für jede Postkarte, die man verschickt, bekommt man selbst eine Karte von einem willkürlichen Absender von irgendwo auf der Welt. Die Motivation, die auch die beiden Gründer der Gemeinschaft antrieb: die Freude, analoge Post zu bekommen. Postkarten von den unterschiedlichsten Orten der Welt, darunter viele, von denen man noch nie gehört hat, können den Briefkasten in eine Überraschungsbox verwandeln.

“Postcrossing ist wie das Öffnen von Türen zur Welt“ schreibt eine Postcrosserin aus den USA. „Jedes Mitglied ist wie ich einfach jemand, der seine Gedanken und Erfahrungen aus seiner kleinen Ecke auf dem Globus teilen möchte. Ich denke, es ist das nächste, was wir zum Weltfrieden haben“, schreibt die Frau.

Man teilt ganz alltägliche Dinge wie das Gassi-Gehen mit dem Hund oder Kochrezepte und Gedichte, Buchempfehlungen und Reisetipps in aller Kürze. Auf einer Postkarte ist ja nicht allzu viel Platz.

Ein paar Sätze sind schnell formuliert

Das macht gerade ihren Charme aus: Ein paar Sätze sind schnell formuliert, einen Brief zu schreiben, ist deutlich aufwendiger. Je mehr Karten man schreibt, desto mehr Nachschub gibt es. Viele Postcrosser sagen, dass es ihnen sogar mehr Spaß macht, Karten zu gestalten und zu verschicken, als selbst welche zu bekommen.

Dann gibt es da noch die Treffen der Postkartenliebhaber. Sie dienen unter anderem dem Austausch unter Gleichgesinnten. Dort bekommt man Tipps, wo man günstige und ungewöhnliche Briefmarken oder Postkarten bestellen kann, welcher Stempel sich für das Massenstempeln am besten eignet.

Bei den Treffen von Postcrossern werden auch Erfahrungen ausgetauscht.
Bei den Treffen von Postcrossern werden auch Erfahrungen ausgetauscht. | Bild: Ines Stöhr

Wichtigster Feiertag: Weltpostkartentag

Der wichtigste Feiertag für Postcrosser ist übrigens der Weltpostkartentag am 1. Oktober. Diesen Tag gibt es seit 2019, als das 150-Jahr-Jubiläum der Postkarte gefeiert wurde. Jedes Jahr treffen sich Postkartenfans, um diesen Tag zu feiern und gestalten sogar spezielle Postkarten und Briefmarken.

Die erste Postkarte wurde 1869 in Österreich-Ungarn versendet. Sie war mit einem einfachen Text versehen, sollte eine günstigere Alternative zum Brief sein und wurde schnell zu einem beliebten Kommunikationsmittel.

Laut Statista wurden in den 50er-Jahren in Deutschland 920 Millionen Postkarten pro Jahr verschickt. In den 2010er-Jahren waren es noch rund 195 Millionen Karten jährlich. Danach ging die Anzahl der Postkarten weiter zurück. 2021 waren es nur noch 116,5 Millionen.

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In Tübingen berichtet eine Teilnehmerin, dass sie letztens 20 Karten auf einen Schlag im Briefkasten hatte. Eine andere erzählt lachend, dass sie schon öfter den Postboten dabei ertappt hat, wie er interessiert ihre Botschaften aus fernen Ländern studierte.

Eine Teilnehmerin aus Bayern verrät, dass sie in einem Zimmer ihrer Wohnung ein Wand füllendes Regal stehen hat, in dem sich ihre nach Motiven sortierten Postkarten in Schuhkartons stapeln.

Ein gut sortiertes Repertoire

Das Treffen in Tübingen ist das sechste, das Claus-Dieter Bergmann organisiert. Für April ist das nächste geplant. Bevor es ins Lokal geht, klappert er mit den Teilnehmern die Postkartenläden der Stadt ab. Von touristischen Ansichten über Kunstkarten bis zu witzigen Sprüchen: Ein erfahrener Postcrosser hat stets ein gut sortiertes Repertoire an unterschiedlichsten Motiven, das es immer wieder aufzufüllen gilt.

Wie der Tübinger zu den Postkartenliebhabern fand? „Übers Internet“, erzählt er. „Ohne gezielt zu suchen, bin ich zufällig auf Postcrossing gestoßen, habe mir das mal genauer angeschaut und dachte, das könnte ein neues Hobby für uns sein.“

Für die Treffen der Postcrosser werden eigens Karten gestaltet.
Für die Treffen der Postcrosser werden eigens Karten gestaltet. | Bild: Ines Stöhr

Die erste verschickte Karte ging in die USA, die erste erhaltene Karte kam aus Hamburg. Dann hat er im Forum von den Meetings gelesen. Eines war in der Nähe, in Stuttgart, also habe man beschlossen, da „mal hinzufahren“. „Völlig unbedarft, keine Karten im Gepäck und vor allem keinen Stempel“, erinnert sich Claus-Dieter Bergmann.

Es kamen viele Gleichgesinnte. Weil Bergmann in Ermangelung eines Stempels die Meeting-Karten unterschreiben musste, taten irgendwann die Finger weh. Aber er stellte fest – das ist neben dem Kartenschreiben sein Ding. Mittlerweile war er mit seiner Lebensgefährtin auf Postcrossing-Treffen im ganzen süddeutschen Raum sowie in Hamburg, Österreich und Straßburg.

Spannung beim Öffnen des Briefkastens

„Mittlerweile möchten wir Postcrossing nicht mehr missen. Es kribbelt immer noch, wenn man den Briefkasten öffnet und mit Spannung auf die Karten wartet“, sagt er. „Oder man spekuliert, wie lange eine Karte in ein exotisches Land braucht, bis sie beim Empfänger landet.“

„Ich liebe es, Orte auf der Welt zu sehen, die ich nie selbst besuchen werde. Aber vor allem freue ich mich über die kurzen Verbindungen zu fremden Menschen irgendwo auf dem Planeten, wie ‚Hey, ich liebe es auch zu stricken‘ oder ‚Ich wandere auch gern durch die Wälder und genieße ein schönes Lagerfeuer.‘ Das lässt die Welt kleiner und freundlicher erscheinen“, heißt es von einem Nutzer aus den USA.

Neben touristischen Karten werden auch spezielle Postcrossing-Grüße verschickt.
Neben touristischen Karten werden auch spezielle Postcrossing-Grüße verschickt. | Bild: Ines Stöhr

Über eine Herrenhandtasche wurde Daniela Geiger aus Dornhan im Schwarzwald zur Postcrosserin. 2021 bot sie die Tasche ihres Vaters als Geschenk über Ebay Kleinanzeigen an. Der Abholer schrieb: „Sie erkennen mich an meinen roten Haaren.“

Daniela stellte sich „einen Rocker mit Vollbart auf einem Motorrad vor“. Tatsächlich fuhr dann eine Frau mit kurzen roten Haaren vor. „Etwas enttäuscht war ich schon“, gesteht Daniela lachend.

Wenn aus Postcrossern Freunde werden

Wozu sie eine Männerhandtasche bräuchte, wollte sie von der Käuferin wissen. Die sei für die Stifte zum Postcrossing. „Ich wurde hellhörig, und sie erzählte mir etwas darüber“, berichtet Daniela Geiger. „Ich fand es interessant und wollte es mir mal anschauen.“

Mittlerweile hat Daniela fast 900 Karten verschickt und erhalten. Und Treffen in Spanien, Liechtenstein und Österreich besucht. Etliche Freundschaften haben sich daraus entwickelt. Unter anderem zu der Frau mit den roten Haaren.