Scherben auf dem Boden, eingeschlagene Fenster in den Stockwerken darüber, Graffiti am Gemäuer. Über den mit Gestrüpp bewachsenen Weg haben Waltraud Schröder und Hildegard Ruppel das Haus Hohenbaden am Bad Dürrheimer Stadtrand erreicht.

Das ehemalige Kindersolbad Haus Hohenbaden im Juli 2024: In dem seit 20 Jahren leer stehenden Gebäude ist praktisch keine Fensterscheibe ...
Das ehemalige Kindersolbad Haus Hohenbaden im Juli 2024: In dem seit 20 Jahren leer stehenden Gebäude ist praktisch keine Fensterscheibe mehr intakt. | Bild: Nathalie Göbel

Ja, das ist es. Jetzt, wo sie davor stehen, haben sie das Gebäude sofort erkannt. In ihrem Hotel haben sie extra noch einmal an der Rezeption gefragt, welches Haus denn das ehemalige große Kurheim ist, in dem sie als junge Mädchen in den 50er Jahren mehrere Wochen verbracht haben.

Die Erinnerungen sind gut

Waltraud Schröder blickt an dem verfallenen Gebäude hoch. Silberweißer Kurzhaarschnitt, Sonnenbrille, ein moderner Rucksack auf dem Rücken, breiter hessischer Dialekt: „Ja, hier sinn mer gewesen.“ Sie sagt es ohne Groll.

Anders als viele Kinderkur-Verschickte hat die Frankfurterin keine schlechten Erinnerungen an ihre Zeit in Bad Dürrheim.

Eine Reise in die Vergangenheit

Schon seit Jahren wollten die Frauen wieder einmal hierher. Ein Unfall und mehrere Operationen haben Hildegard Ruppel vergangenes Jahr jedoch lange außer Gefecht gesetzt.

Jetzt haben sie es endlich geschafft, haben einen Kurzurlaub gebucht, sind ins Auto gestiegen und dreihundert Kilometer in den Schwarzwald gefahren.

Die 83 Jahre alten Freundinnen kennen sich schon, seitdem sie zusammen im Sandkasten spielten. Nicht nur acht Jahrzehnte Freundschaft verbinden die beiden, sondern auch mehrere Kinderkuren, auch in Bad Dürrheim. „Aber nicht gleichzeitig“, sagt Waldtraud Schröder, „wir haben erst später herausgefunden, dass wir in verschiedenen Jahren hier zur Kur waren.“

Auf dem Weg zum Haupteingang des Hauses Hohenbaden wachsen die Bäume schon meterhoch. 2004 wurde das Haus geschlossen.
Auf dem Weg zum Haupteingang des Hauses Hohenbaden wachsen die Bäume schon meterhoch. 2004 wurde das Haus geschlossen. | Bild: Nathalie Göbel

Was beide mehrfach betonen: Es sei ihnen im Haus Hohenbaden nicht schlecht gegangen. Streng sei es gewesen, ja. Aufessen, das mussten sie auch. Blumenkohl mag Waltraud Schröder deshalb bis heute nicht. Aber misshandelt habe sie niemand.

Zwischen Trauma und Ferienabenteuer

Sie sei eher traurig gewesen, wenn es wieder nach Hause ging, sagt die 83-Jährige. Hildegard Ruppel nickt. Damit sprechen beide das aus, was die Frage, wie sich die Stadt Bad Dürrheim mit dem Thema Verschickungskinder auseinandersetzt, so schwierig macht.

„Die Lieder, die ich hier gelernt habe, kann ich heute noch auswendig.“
Waltraud Schröder, ehemaliges Kurkind

Da gibt es diejenigen, denen noch heute allein beim Gedanken an die Wochen unter dem Drill der „Tanten“ in den Kurheimen die Tränen kommen.

Und es gibt diejenigen, die gerne zurückdenken an die Zeit in Häusern, die so heimelig anmutende Namen trugen wie „Kinderparadies“ oder „Kinderheim Rübezahl“. Die mit den Kurwochen Freiheit verbinden, Abenteuer, Lagerfeuer. „Die Lieder, die ich hier gelernt habe, kann ich heute noch auswendig“, sagt Waltraud Schröder.

„Man muss aufpassen, wenn man mit dem Finger auf Menschen zeigt.“
Jonathan Berggötz, Bürgermeister von Bad Dürrheim

So verschieden, wie Menschen sind, so individuell ist auch, wie Erlebtes empfunden, bewertet und verarbeitet wird.

Das weiß auch Jonathan Berggötz. Der Bad Dürrheimer Bürgermeister, Jahrgang 1986 und seit 2020 im Amt, gehört zu jenen, die sich diesem Teil der kurstädtischen Geschichte nicht verschließen. Er sagt aber auch: „Man muss aufpassen, wenn man mit dem Finger auf Menschen zeigt.“

Angela Koch (Kreis) als Vierjährige inmitten der Kurkinder in Bad Dürrheim.
Angela Koch (Kreis) als Vierjährige inmitten der Kurkinder in Bad Dürrheim. | Bild: Angela Koch

Unbestritten ist, dass viele Tausend Kinder von den 50er bis in die 80er Jahre in den Kuren körperliche und seelische Gewalt widerfahren ist. Auch in den Bad Dürrheimer Einrichtungen galten strenge Regeln. Womöglich oft schlicht aus der puren Überforderung heraus. „Im damaligen Betreuungsschlüssel waren zwei Erzieherinnen für 50 Kinder und Jugendliche zuständig“, sagt Jonathan Berggötz.

Heute weiß man vieles besser

Angela Koch, auch sie ein ein ehemaliges Kurkind des Hauses Hohenbaden, erinnert sich so: „Schon bei der Ankunft herrschte ein Wahnsinnston.“ Waltraud Schröder kam damit zurecht. Allerdings war sie bei den Aufenthalten zehn und 14 Jahre alt, Angela Koch war erst vier.

Ein Kind hält im Frühjahr 2022 eine Postkarte des Kinderkurheims Villa Hilda in der Hand. Das abgebildete einstige Bad Dürrheimer ...
Ein Kind hält im Frühjahr 2022 eine Postkarte des Kinderkurheims Villa Hilda in der Hand. Das abgebildete einstige Bad Dürrheimer Sanatorium ist längst verschwunden, an der gleichen Stelle befinden sich inzwischen die Gebäude eines Aparthotels. | Bild: Andreas Block

„Heute käme zum Glück niemand mehr auf die Idee, so junge Kinder über Wochen hinweg von ihren Eltern zu trennen“, sagt Jonathan Berggötz.

Dass das etwas mache mit der Bindung zwischen Eltern und Kindern und den Betroffenen emotional auf lange Sicht Probleme bereite, stehe außer Frage.

Bürgermeister Jonathan Berggötz hat sich viel mit dem Thema Kinderkuren beschäftigt und hält zu mehreren Ehemaligen Kontakt.
Bürgermeister Jonathan Berggötz hat sich viel mit dem Thema Kinderkuren beschäftigt und hält zu mehreren Ehemaligen Kontakt. | Bild: Nathalie Göbel

Seit er zu Beginn seiner Amtszeit das erste Mal mit dem Thema Kinderkur-Verschickte konfrontiert wurde, hat er viele Gespräche mit Betroffenen geführt, einige in seinem Büro empfangen, mit mehreren auch das Haus Hohenbaden besucht.

Er hat sich auch öffentlich in einem Zeitungsartikel dafür entschuldigt. Dafür, dass viele ehemalige Verschickungskinder in Bad Dürrheim so gelitten haben. Eine Geste, die nicht bei allen gut ankam, wie er sagt. Das würde ein schlechtes Licht auf die Stadt werfen, sei ihm unter anderem vorgeworfen worden.

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Fast so, als wäre die Kinderverschickung ein Alleinstellungsmerkmal Bad Dürrheims. Dabei wurden ab den 50er Jahren Millionen von Kindern aus allen Bundesländern zur Kur geschickt: An die Nordsee, in den Schwarzwald, nach Bayern.

Zwei Kurkinder-Generationen treffen aufeinander

Hildegard Ruppel und Waltraud Schröder sind an diesem Morgen nicht alleine am Haus Hohenbaden. Ramona Bacher stößt zu ihnen – Zufallsbegegnung zweier Kurkinder-Generationen.

Die 64-Jährige aus Tuttlingen ist momentan zur Reha in Bad Dürrheim. Auf ihrem täglichen Spaziergang zieht es sie stets ans Haus Hohenbaden. „Schade, dass ein so schönes Gebäude so verfällt.“

„Niemals werde ich meine Kinder wegschicken“

Auch Ramona Bacher ist ein ehemaliges Kurkind, wurde gemeinsam mit ihrem Bruder für sechs lange Wochen nach Wangerooge geschickt. Gewalt habe sie nicht erfahren, erinnert sie sich. Aber Heimweh.

„Ich sollte zunehmen und habe abgenommen, weil ich so Heimweh hatte, dass ich nicht essen konnte“, sagt sie. Schon damals habe sie sich vorgenommen: „Niemals werde ich meine Kinder wegschicken.“

Vernagelte Fenster, zerbrochene Scheiben: Das ehemalis stattliche Gebäude Haus Hohenbaden zerfällt zusehends.
Vernagelte Fenster, zerbrochene Scheiben: Das ehemalis stattliche Gebäude Haus Hohenbaden zerfällt zusehends. | Bild: Nathalie Göbel

Wenn man etwas aus dem Thema lernen könne, sagt Jonathan Berggötz, dann Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass die Gesellschaft aus dieser Zeit gelernt habe. Und auch dafür, wie man selbst aufgewachsen sei.