Vor etwa zwei Jahren berichtete der SÜDKURIER erstmals über die oftmals erschreckenden Erfahrungen von Kindern, die zwischen 1950 und etwa 1990 deutschlandweit in Kinderkurheime zwischen Schwarzwald und Nordsee verschickt wurden. In Baden-Württemberg existierten mehr als 800 Kinderkurheime, die von Sozialverbänden und Krankenkassen aber auch von Privatleuten geführt wurden.

Damit war der Südwesten – neben Bayern und der Küstenregion – ein Schwerpunkt der Verschickungskultur. Deren Schattenseiten werden inzwischen nicht nur von Historikern und Sozialwissenschaftlern erhellt, die für ihre Studien von den neu geknüpften Netzwerken ehemaliger Kurkinder profitieren. Die einsetzende Aufarbeitung ruft auch Bundespolitiker auf den Plan – zuletzt die Unionsfraktion des Bundestags.

In den Schlafsälen wurden zusammen oft mehr als zehn Kinder untergebracht. Einen Schrank oder einen Nachttisch gab es nicht. ...
In den Schlafsälen wurden zusammen oft mehr als zehn Kinder untergebracht. Einen Schrank oder einen Nachttisch gab es nicht. Privatsphäre wurde nicht gestattet. | Bild: SK

Die wandte sich dazu im vergangenen Dezember in einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung und kritisiert Untätigkeit in puncto historische Aufarbeitung und Beratungshilfe für Betroffene. Viele Ehemalige beschäftigen sich nach Jahren mit ihren teils einschneidenden Erfahrungen und wollen Hintergründe erfahren.

Fragen nach Ausstrahlung von ZDF-“Schwarzwaldkrimi“

Seit Beginn der Berichterstattung im SÜDKURIER im Mai 2022 haben die Redaktion immer wieder Anfragen von Leserinnen und Lesern erreicht, die in den Kinderkuren negative und belastende Erfahrungen gemacht haben. Neuer Auftrieb ging von vom Zweiteiler „Schneekind“ aus, den das ZDF vor wenigen Wochen zeigte, und in dem das Thema in der Reihe „Schwarzwaldkrimi“ eingebaut war.

Hier gibt es Hilfe für Ehemalige mit Fragen

So berichtet jetzt Robert Schmid (71) aus Weingarten der Redaktion von seinem Aufenthalt als Sechsjähriger im Kinderkurheim „Hochwald“ in Freudenstadt 1958. „Jeden Morgen um sechs Uhr wurden wir geweckt und danach im Keller mit kalten Wasser abgespritzt.“ Später wurde Schmid ein zweites Mal verschickt. In einem Haus „Waldfriede“ in Bonndorf erlebte er ähnliche Schikanen.

Negativ sind auch die Erfahrungen von Reiner Brede (69), der sich aus Bochum beim SÜDKURIER meldete. Er war Anfang der 60er-Jahre im DRK-Kindersolbad „Haus Hohenbaden“ in Bad Dürrheim, dessen Vergangenheit von Freiburger Historikern aufgearbeitet wurde, deren Studie bald vorgestellt wird.

Das frühere DRK-Kindersolbad „Haus Hohenbaden“ in Bad Dürrheim. Es steht seit Anfang der 90er-Jahre leer. Der Landesverband ...
Das frühere DRK-Kindersolbad „Haus Hohenbaden“ in Bad Dürrheim. Es steht seit Anfang der 90er-Jahre leer. Der Landesverband des Badischen Roten Kreuzes betrieb einst die Einrichtung, an die viele Ehemalige eine düstere Erinnerung haben. | Bild: Alexander Michel

Dort wurde Brede – angeblich wegen einer Masern-Erkrankung – zwei bis drei Wochen isoliert und bekam Medikamente. Von denen hat er den Verdacht, dass sie Langzeit-Beschwerden hervorriefen. Aus Mannheim fragte ein amtierender Hochschul-Professor (Name der Redaktion bekannt) an, der mit dem privat geführten Haus „Schwoerer“ in Lenzkirch-Saig dunkle Stunden verbindet. Allein in Lenzkirch gab es sechs Erholungsheime für Kinder.

Für viele ein Ort böser Erinnerungen: Das Kinderkurheim „Schwoerer“ im Lenzkircher Stadtteil Saig. Es wurde privat ...
Für viele ein Ort böser Erinnerungen: Das Kinderkurheim „Schwoerer“ im Lenzkircher Stadtteil Saig. Es wurde privat betrieben. Die Behandlungen richteten sich etwa gegen Asthma und Bronchitis. | Bild: SÜDKURIER-Archiv

Die mittlerweile entfachte bundesweite Debatte über die in vielen Kurheimen praktizierten Schikanen, Misshandlungen und Demütigungen wird unter anderem über Betroffenen-Hilfsorganisationen wie den Verein Aufarbeitung Kinderverschickung Baden-Württemberg (AKVBW) in die Bundespolitik getragen. Hintergrund: Die von Landessozialminister Manfred Lucha (Grüne) 2020 angestoßenen Projekte treten nach Auffassung des AKVBW auf der Stelle. Gefordert wird unter anderem eine große wissenschaftliche Studie zum Thema Kinderkur im Südwesten.

Arbeitskreis-Briefe bleiben ohne Antwort

Bisher bleiben die Versuche, in Berlin eine konkrete ministerielle Rückendeckung zu erreichen, erfolglos. So wandte sich der AKVBW im Juli 2022 an Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) und erbat eine bundesweite Koordination der Aufarbeitung, da die Länder diese wegen der überregionalen Ausmaße der Verschickungskultur allein nicht leisten können.

„Der Brief blieb bis heute unbeantwortet“, sagt Arbeitskreis-Leiterin Andrea Weyrauch auf Anfrage. Dasselbe gilt für weitere Schreiben, die an Bundesgesundheitsministerin Karl Lauterbach (SPD) und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) gerichtet waren.

Das in seinen Ausmaßen kolossale Kinderkurheim „Schuppenhörnle“ in Feldberg-Falkau. Es wurde in der Nazi-Zeit 1937 im ...
Das in seinen Ausmaßen kolossale Kinderkurheim „Schuppenhörnle“ in Feldberg-Falkau. Es wurde in der Nazi-Zeit 1937 im Heimatstil errichtet. Heute befindet sich dort eine Einrichtung für Eltern-Kind-Kuren. Sie trägt noch immer den ursprünglichen Namen. | Bild: DAK Zentralarchiv

Inzwischen hat man stärkeres Geschütz aufgefahren. Kürzlich nahm sich die CDU/CSU im Bundestags der Kinderkuren an. Eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung sollte klären, wie weit man damit gekommen sei, die bald vier Jahre alten Beschlüsse der Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) vom Mai 2020 umzusetzen. Darin war der Bund aufgefordert worden, die bundesweite Aufklärung der Vorkommnisse in den Kurheimen anzuschieben. Dabei sollten auch Vertreter der ehemals Verschickten eingebunden werden.

Familienministerin bietet nur Allgemeinplätze

Passiert ist selbst nach vier Jahren praktisch nichts – außer zweier folgenloser Gespräche mit Vertretern des Vereins „Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickung“ (AEKV) im Januar 2021 und Juli 2022. Lapidar antwortet das Bundesfamilienministerium, man habe an den Berichten „mit großer Betroffenheit Anteil genommen“ und erkenne das Leid der ehemaligen Kinder „ausdrücklich an“. Ergebnisse des Austausches lägen indes nicht vor. Daher sei von konkreten Schritten nichts bekannt.

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Mit Unmut reagiert Silvia Breher, familienpolitische Sprecherin der Unionsfraktion, auf die diffuse Stellungnahme. Paus, sagt sie, habe selbst drei Jahre nach dem Beschluss der JFMK „keinen Plan“. Sie fordert die Ministerin auf, einen Forschungsauftrag zu erteilen, der die Gesamtdimension des Verschickungssystems darstelle, das rund acht Millionen Kinder in Westdeutschland durchliefen.

Verein hat Zeitzeugenarchiv aufgebaut

Forschungsmaterial dafür wäre genug vorhanden. So hat der AKVBW ein Zeitzeugen-Archiv aufgebaut, dass digital einsehbar ist. Vorsitzende Andrea Weyrauch, als Mädchen selbst ins Kindersolbad nach Bad Friedrichshall verschickt, wirft Ministerin Paus auf Anfrage eine „erschreckende ahistorische Haltung“ vor.

Auch die Autorin und Pädagogin Anja Röhl (Jahrgang 1955 und einst selbst verschickt) treibt die Aufarbeitung der Kinderkur-Geschichte seit Jahren voran. Ergebnis sind unter anderem Kongresse mit Ehemaligen und Fachleuten – etwa im vergangenen Herbst im niedersächsischen Bad Salzdetfurth. Dort kamen 1969 zwei Jungen und ein Mädchen – sieben, vier und sechs Jahre alt – in einem Kinderkurheim ums Leben.

Bundesweite Vernetzung kommt voran

Seit Juni 2023 gibt es den Verein „Initiative Verschickungskinder“, dem jeder beitreten kann, der an der Aufarbeitung mitwirken will.

Sprecher Uwe Rüddenklau berichtet dem SÜDKURIER von „vielen Anfragen“ und kann immerhin von zwei Erfolgen berichten: In Bayern und Hessen sind die Sozialministerien auf den Kurs von Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen eingeschwenkt und schaffen Ansprechstellen für Ehemalige, die recherchieren wollen.

Kurheim-Drehort für TV-Produktion gesucht

Der Druck auf den Bund, die Entwicklung koordinierend in die Hand zu nehmen und zu vernetzen, wächst also. Möglicherweise trägt auch ein Filmprojekt zur Vertiefung bei: Die Berliner TV-Produktionsfirma Tondowski Films arbeitet gemeinsam mit dem ZDF und der Regisseurin Katrin Sikora von der Babelsberger Filmuniversität an einer Dokumentation zum Thema Verschickungskinder.

Eine Anfrage mit der Bitte um Rat bei der Suche nach einem historischen Kurheim-Drehort in Baden-Württemberg erreichte den SÜDKURIER vergangene Woche.