Herr Gockel, eine Urangst ist, am Ende des Lebens zu ersticken. Können Sie Patienten diese nehmen?

Ja, deshalb bin auch so froh, wenn ich möglichst früh hinzugezogen werde. Mit fast 100-prozentiger Sicherheit kann ich die Menschen beruhigen, denn medikamentös lässt sich die Luftnot gut behandeln. Wir haben Medikamente, mit denen man dieses subjektiv beklemmende Gefühl der Luftnot verhindern kann. Ich kann damit nicht verhindern, dass der Körper des Erkrankten auf Dauer zu wenig Sauerstoff bekommt und irgendwann an diesem Sauerstoffmangel sterben wird. Aber der Patient wird das nicht als unangenehm empfinden. Zur Not kann man ihn in eine Art Narkose versetzen, dass er es verschläft, wenn es soweit ist.

Wir mussten unser Gespräch verschieben, weil es bei Ihnen akut um die palliative Weiterversorgung einer Patientin mit Lungenkrebs ging.

Ja, mit ihr und ihrer Tochter soll heute noch ein Gespräch stattfinden. Wenn ein Tumor Metastasen gebildet hat und nicht operabel ist, wird meistens eine Chemotherapie angeboten, die im besten Fall, den Krebs verkleinert, ihn aber realistischerweise nicht verschwinden lässt. Im schlechtesten Fall spricht er nicht darauf an und die Krankheit verschlimmert sich.

Matthias Gockel begleitet seit 20 Jahren sterbenskranke Patienten. Der 49-Jährige ist Internist und leitet den Schwerpunkt ...
Matthias Gockel begleitet seit 20 Jahren sterbenskranke Patienten. Der 49-Jährige ist Internist und leitet den Schwerpunkt Palliativmedizin am Vivantes Klinikum in Berlin. Zuvor hatte er die Palliativstation am Klinikum Großhadern in München mitaufgebaut und von 2009 bis 2017 die Palliativstation im Helios-Klinikum Berlin-Buch geleitet. Gockel ist verheiratet und stammt aus Wuppertal. | Bild: Claudia Burger

Wann und wie kommt die Palliativmedizin ins Spiel?

Die Palliativmedizin ist für Menschen mit schwerer Erkrankung und begrenzter Lebenserwartung zuständig, wenn keine ursächliche Behandlung mehr passiert. So steht es in den Vorgaben für die Kliniken und den ambulanten Bereich. Bisher kam die Palliativmedizin, nachdem der Onkologe den furchtbaren Satz „Ich kann jetzt nichts mehr für Sie tun“ sagte. Emotional ist das jedoch ein schlimmer Bruch zwischen „Wir versuchen unser Bestes“ und „Jetzt können wir nur noch das Sterben betreuen“. Momentan ändert sich das aber, und die Palliativmedizin kann und sollte bei unheilbaren Erkrankungen schon früher dazukommen, wofür auch die Fachgesellschaften plädieren.

Im konkreten Fall in der Klinik: Kann ich Sie als Angehöriger anfordern, oder läuft das nur über die Ärzte?

In der Regel komme ich auf Anforderung der jeweiligen Kollegen. Wobei ich es noch nie erlebt habe, dass sich Ärzte dagegen sperren, wenn Angehörige sagen, sie möchten einen Palliativmediziner hinzuziehen.

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Niemand will, dass ein Patient in seiner Schicht stirbt. Wie schwer tun sich Ärzte, von sich aus Palliativmediziner mit ins Boot zu holen?

Das ist individuell sehr unterschiedlich. Doch da ist noch deutlich Luft nach oben. Ich hatte mal einen Kollegen, der sagte: „Der Tod ist mein Feind“. Die Möglichkeit, dass Patienten auch mal sterben können, hat er versucht, weitestgehend auszublenden. Das begegnet mir immer wieder.

Viele Patienten wollen wissen, wie lange sie noch zu leben haben. Was sagen Sie ihnen?

Das ist schwierig zu beurteilen. Studien beschreiben die durchschnittlichen Überlebensaussichten erwachsener Patienten nach einer bestimmten Krebsdiagnose. Wenn ich zum Beispiel weiß, dass eine Krankheit im Schnitt ein medianes Überleben von sechs Monaten hat, dann heißt das, dass nach sechs Monaten die Hälfte von 1000 Patienten nicht mehr lebt. Es kann aber durchaus sein, dass Patienten schon nach einer Woche sterben, andere aber noch fünf bis zehn Jahre leben. Wenn man die Betroffenen nach ihrem Gefühl fragt und sie sich trauen, die Frage zu beantworten, wissen sie es selbst oft sehr viel genauer als die Ärzte. Manches Mal war es beeindruckend , aber auch ein bis schen gespenstisch, wie genau dieses eigene Gefühl zutraf.

Sehen Sie es einem Patienten an, wenn er nur noch wenige Tage zu leben hat?

Ja, in der Regel schon. Aber auch, wenn ich erlebe, wie jemand über mehrere Wochen immer schwächer wird, kann ich ungefähr abschätzen, wann der Punkt gekommen sein wird. In den letzten Tagen werden die Patienten immer müder, verschlafen fast den ganzen Tag. Schätzungsweise 90 bis 95 Prozent der Patienten schlafen in den letzten zwei drei Tagen nur noch.

In seinem Buch erzählt der Palliativmediziner von seiner Arbeit und macht Mut, sich mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen.Matthias ...
In seinem Buch erzählt der Palliativmediziner von seiner Arbeit und macht Mut, sich mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen.Matthias Gockel: „Sterben – Warum wir einen Umgang mit dem Tod brauchen“, Berlin-Verlag, 267 Seiten, 22 Euro | Bild: Claudia Burger

Wie gehen sterbenskranke Patienten mit dem Tod um?

Das ist sehr unterschiedlich. Ich habe einen jungen Mann erlebt, der morgens noch die Krankenschwester tröstete und nachmittags starb. Gerade bei jungen Patienten geht einem das sehr nah. Manche sterben mit einer zufriedenen, friedlichen Erleichterung. Es gibt aber auch Menschen, die ihren Tod für so unvorstellbar halten, dass jeder Strohhalm ergriffen wird, von Zweitmeinungen über alternative Behandlungsmethoden bis zum Wälzen der gesamten wissenschaftlichen Literatur. Für mich als Arzt, aber auch für die Angehörigen ist es schwer zu sehen, wie jemand sich die letzten Lebenswochen mit diesem Aktivismus verbaut und dann doch stirbt. Ich erlebe aber auch Menschen, die so sehr auf den Tod fixiert sind, dass sie keinerlei Lebensfreude mehr haben, noch etwas mit ihrer Familie zu erleben. Auf die Frage: „Ist das nicht schön?“, kommt meist die Antwort: „Aber was macht das für einen Sinn – ich sterbe ja sowieso.“

Sie haben erlebt, wie sich ein Patient über Tage quälte und Sie sich fast nicht mehr rational erklären konnten, warum er noch immer am Leben war.

Ja, stets war einer seiner Angehörigen im Krankenzimmer. Eine erfahrene Schwester bat diese schließlich, einen Kaffee trinken zu gehen, sie wolle das Bett des Patienten frisch machen. Ihm flüsterte sie ins Ohr: „Ich habe jetzt alle für fünf Minuten weggeschickt. Sollte es wirklich so schlimm sein, dass Sie lieber alleine gehen und es Ihrer Familie ersparen möchten – jetzt wäre die Gelegenheit.“ Es dauerte exakt dreieinhalb Minuten, bis er starb.

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Manchmal gibt es auch den umgekehrten Fall, dass jemand erst dann stirbt, wenn die Tochter oder der Sohn aus der Ferne am Bett steht. Menschen, die es nicht rechtzeitig schaffen, machen sich Vorwürfe, dass Sie in diesem Moment nicht da waren. Was sagen Sie ihnen?

Ja, das erlebe ich immer wieder. Ich sage dann: Wenn Ihr Angehöriger in der Nacht stirbt, vielleicht auch, ohne dass das Personal das sofort bemerkt, dann ist das kein Zufall.

Wenn jemand sehr stark sediert ist und nur noch wenig bei Bewusstsein, was kriegt er noch mit an Berührungen, Geschmack, Musik?

Eine ganze Menge. Von Menschen auf Intensivstationen, die ja oft auch bewusstlos oder stark sediert sind, wissen wir, dass sie viel mehr mitbekommen als man glauben könnte. Spricht eine Schwester einen Patienten an und es passiert nichts, dann erleben wir es immer wieder, dass der Blutdruck und der Puls sich verändern, wenn ein Angehöriger ans Bett tritt und ihn anspricht.

Wenn Angehörige einen Patienten berühren, streicheln oder ansprechen, verändert sich dessen Blutdruck und Puls.
Wenn Angehörige einen Patienten berühren, streicheln oder ansprechen, verändert sich dessen Blutdruck und Puls. | Bild: Berg

Was geben Sie Angehörigen nach dem Tod mit auf den Weg?

Ich sage ihnen, dass es sein kann, dass sie in der nächsten Zeit hin-und herschwanken zwischen emotional völlig Überrolltsein und einer pragmatischen Kühle, die Ihnen genauso unheimlich vorkommen kann. Das ist normal und gehört dazu. Unsere Seele schützt sich hier auch ein bisschen.

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Sehr schön fand ich die Idee einer Krankenschwester, die Sie beschreiben. Sie wickelte dem Verstorbenen ein Band ums Handgelenk, das so lang war, dass sie es einem oder mehreren Angehörigen ums Handgelenk binden konnte. Dann holte sie eine Schere und überließ es den Angehörigen, ob sie das Band durchschnitt, oder ob sie es selbst übernehmen wollten.

Ja. Das ist ein sehr schönes Ritual: Die Verbindung wird getrennt, der Schnitt gemacht. Es ist ein sehr eindrucksvolles Bild für das Loslassenmüssen. Diese Schwester setzte es nur dort ein, wo es ihrer Meinung nach passte. Die Angehörigen nahmen eine Erinnerung an das Gemeinsame mit, ehe sie ins Leben zurückkehrten.

Hat Sie mal jemand gefragt, ob Sie ihm beim Sterben helfen könnten?

Ja, immer wieder. Für mich ist das ein Zeichen, dass es jemand sehr schlecht geht. Ich frage dann: „Warum wollen Sie sterben? Was müsste besser werden, damit das Leben wieder lebenswert wird?“ In 90 Prozent der Fälle haben wir konkrete Situationen und Symptome ausmachen können, wie Schmerzen, aber auch fehlenden Lebenssinn, an denen wir ansetzen konnten. Es braucht nur den Mut, diese Gespräche zu führen statt wegzuhören.

Fragen: Birgit Hofmann