In Ihrem Buch erzählen Sie von Ihrer Arbeit als Palliativärztin und Ihren Erfahrungen mit todkranken Patienten. Warum schreiben Sie unter Pseudonym?

Ich möchte nicht, dass meine Patienten sich fragen, ob sie ihre Geschichte demnächst in einem Buch wiederfinden. Es ist ein sensibles Thema, und ich muss auch meine Kollegen schützen. So kann ich meine Worte freier wählen.

Warum haben Sie sich auf die Palliativmedizin spezialisiert? Das ist ja ein Bereich, in dem man als Arzt nicht mehr heilen kann.

Das stimmt. Deshalb wählen ihn auch nur wenige Kollegen. Als Arzt geht es ums Heilen um jeden Preis. Alles andere ist Versagen. Ich habe vorher viel auf der Intensivstation gearbeitet. Die Pflegekräfte sagten immer: Da habt ihr wieder einen von der Wolke gezerrt. Das hat mir jedes Mal einen Stich gegeben, weil es stimmte. Ich habe viele Situationen erlebt, die ich als sehr frustrierend empfand, weil man wusste, dieser Mensch wird das nicht überleben. Trotzdem machte man weiter. Oft habe ich gedacht, wenn ich in dieser Situation wäre, würde ich das so nicht wollen.

Als Palliativärztin nehmen Sie sich Zeit für die Patienten, Zeit, die sich andere Ärzte nicht nehmen wollen oder können.

Richtig. Ein Erstgespräch dauert gut eineinhalb Stunden.

Sie lernen Ihre Patienten erst in einer lebensbedrohlichen Phase kennen. Wie nehmen Sie Kontakt auf?

Oft ist es so, dass die Leute erst einmal viel erzählen wollen. Wir hören ihnen zu, und ich frage meist als erstes, ob sie wissen, was wir tun. Die meisten haben keine Ahnung. Sie sind aber sehr verzweifelt und einfach froh, dass endlich jemand da ist.

Wie kommen die Patienten zu Ihnen?

Die meisten unserer Patienten haben Tumorerkrankungen. Entweder die Klinik ruft uns an, der Hausarzt, ein Sozialarbeiter oder die Familie selbst. Wenn wir rund um die Uhr für die Leute zuständig sind, also in der höchsten Versorgungsstufe, setzt das voraus, dass keine Chemotherapien oder Bestrahlungen mehr laufen und auch keine palliative Chemotherapie mehr, die nicht der Heilung, sondern der Lebenszeitverlängerung dient.

Wer noch eine Chemotherapie oder Bestrahlung bekommt, kann nicht von einem Team der Ambulanten Spezialisierten Palliativversorgung ...
Wer noch eine Chemotherapie oder Bestrahlung bekommt, kann nicht von einem Team der Ambulanten Spezialisierten Palliativversorgung betreut werden. | Bild: auremar - stock.adobe.com

Warum ist das so?

Wir sind hier sehr streng, weil wir sonst unter Umständen in Konflikt kommen mit der Zielsetzung des Patienten. Wenn ein Patient sagt, ich möchte zu Hause bleiben, aber noch mit einer Chemotherapie behandelt werden, und er dann nachts um drei Uhr Fieber kriegt, stehen wir an seinem Bett und wissen im Zweifel nicht, ob er stirbt, oder eine Nebenwirkung seiner Chemotherapie bekommen hat und dringend in die Klinik müsste. Das ist eine Entscheidung, die man nicht mitten in der Nacht treffen möchte.

Worunter leiden sterbenskranke Patienten am meisten?

Viele von ihnen haben starke Schmerzen und Luftnot. Wenn jemand einen Tumor im Bauch hat und schlecht Luft bekommt, schauen wir uns seine Symptome an und versuchen zum Beispiel mit Opiaten, die Schmerzen und auch die Luftnot zu lindern. Häufig sind die Leute medikamentös unterversorgt. Sie haben ein relativ schwaches Schmerzmittel und wenig gegen die anderen Beschwerden. Zum Gespräch gehen wir immer zu zweit: Ich als Ärztin mit einer Fachpflegekraft, die keine Pflege übernimmt, aber täglich den Kontakt zum Patienten hält. Wir suchen auch einen Pflegedienst, wenn er gebraucht wird.

Können Sie den Patienten alle Schmerzen nehmen?

In der Regel kriegen wir das gut hin. Ich lasse den Patienten auch immer zusätzliche Opiate der gleichen Sorte als schnell wirksames Bedarfsmedikament da, die sie zum Beispiel bei Schmerzspitzen einnehmen können. Wenn die Patienten nicht mehr schlucken können, schließen wir eine Medikamentenpumpe an, die den Wirkstoff kontinuierlich zuführt.

Über welchem Zeitraum betreuen Sie die Patienten?

Wir haben Patienten, die wir nur 24 Stunden betreuen. Aber wir hatten auch mal eine Betreuung über drei Jahre. Das ist aber eher ungewöhnlich, denn die Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung ist auf eine kurzfristige Betreuung am Lebensende ausgelegt, damit Patienten zu Hause sterben können, wenn sie das wollen.

Wollen die Menschen zu Hause sterben?

Ja. Doch ich erlebe auch Patienten, die sagen: Ich möchte nicht zu Hause sterben, sondern im Hospiz oder auf der Palliativstation einer Klinik.

Warum denn?

Wenn ich nachfrage, ist es oft so, dass sie das ihren Angehörigen nicht zumuten wollen. In den allermeisten Fällen bleiben die Leute zu Hause, wenn sie merken, dass die Angehörigen sich gerne kümmern und sie sehen, wie viel Unterstützung sie von uns bekommen.

Wie erleben Sie die Menschen, wenn Sie zu ihnen kommen? Viele von ihnen sind ja äußerlich schon stark gezeichnet von der Krankheit. Ob sie sich auch persönlich verändern, ist für Sie sicher schwer zu beurteilen.

Ja, das stimmt. Mir fällt aber auf, dass viele zunächst eine Fassade aufrecht erhalten, die am Ende sehr schnell fällt. Wir sind sehr nah dran an den Menschen, und merken sehr schnell, wie die Beziehung der Kranken und ihrer Angehörigen ist, wer mit wem kann oder nicht. Es gibt oft auch die Extreme: Manche bleiben sehr liebevoll und dankbar bis zum Schluss, während andere, gerade, wenn sie jünger sind, extrem frustriert reagieren und das auch an ihren Angehörigen auslassen. Ich kann beides verstehen.

Kann man die Lebensqualität eines Todkranken noch verbessern über Berührungen, sein Lieblingsessen oder -getränk, bestimmte Gerüche, Musik?

Wir haben Angebote, die der Hospizverein finanziert, wie einen Kunsttherapeuten und eine Atemtherapeutin. Auch eine Körpertherapie mit Massagen gefällt den Patienten, Gespräche tun vielen gut. Essen und Getränke werden oft überschätzt, denn ein Sterbender hat weder Hunger noch Durst. Es kommt vor, dass Angehörige denken, sie müssten dem Kranken 1,5 Liter zu trinken geben, sonst kommt der Staatsanwalt. Das ist natürlich nicht so. Ich sage auch immer: ‚Essen Sie, was Sie möchten und wenn Sie nichts möchten, dann essen und trinken Sie eben nichts’. Damit sind die Angehörigen sehr entlastet in ihrer Sorge.

 

Den Tagen mehr Leben geben

  • Zur Person Hannah Haberland
    Hannah Haberland: Letzte Begegnungen. Eine Palliativärztin erzählt. Eden Books, Berlin, 224 Seiten, 14,95 Euro.
    Hannah Haberland: Letzte Begegnungen. Eine Palliativärztin erzählt. Eden Books, Berlin, 224 Seiten, 14,95 Euro. | Bild: Eden Books
    Hannah Haberland ist ein Pseudonym. Die 1984 in einer norddeutschen Kleinstadt geborene Palliativärztin nutzt es für ihr soeben erschienenes Buch „Letzte Begegnungen“, in dem sie sehr offen von ihrer Arbeit erzählt. In einem Team der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung kümmert sie sich in einer deutschen Großstadt um Menschen, die keine Chance mehr auf medizinische Heilung haben. Die Fachärztin für Anästhesie machte eine Weiterbildung zur Palliativmedizinerin. „Häufig haben Patienten gar keine große Angst vor dem Tod, aber umso größere Angst vor dem Sterben“, sagt sie.
  • Zur Palliativmedizin
    Palliativmedizin ist die ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer begrenzten Lebenserwartung, die an einer fortschreitenden Erkrankung leiden, die nicht mehr geheilt werden kann. Die Linderung von Schmerzen und anderen belastenden Krankheitsbeschwerden, psychischen und sozialen, stehen im Vordergrund. „Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben“: Diese Worte stammen von der englischen Ärztin Cicely Saunders (geb. 1918), die als Begründerin der modernen Palliativmedizin gilt.
  • Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV)
    Seit 1. April 2017 haben Versicherte Anspruch auf SAPV. Ein Team aus Ärzten und Pflegekräften kümmert sich darum, dass sie bis zu ihrem Tod in ihrem vertrauten Umfeld bleiben können (Teams im Südwesten: www.lag-sapv.de). Der Hospiz- und Palliativverband Baden-Württemberg e. V. vertritt die Belange schwerstkranker und sterbender Menschen (Hospize und Palliativstationen im Südwesten: www.hpvbw.de). (ink)

 

 

Wie erleben Sie die Angehörigen?

Man sieht im Sterben, wie das Verhältnis früher war, gerade, wenn es um die Eltern geht. Ich hatte eine Patientin, die kürzlich mit 90 Jahren gestorben ist. Sie hat die letzten Jahre bei ihrem Sohn gelebt. Er ließ sich am Ende sogar von der Arbeit freistellen, um sich um sie zu kümmern. Er hat alles für sie gemacht. Ich habe anfangs zu ihr gesagt: Irgendetwas müssen Sie richtig gemacht haben. Und der Sohn sagte später, dass er es sehr nett von mir fand, dass ich das zu seiner Mutter gesagt habe. Aber es war auch so. Sie war eine tolle Mutter, die mit ihm sehr liebevoll war, und das wollte er ihr zurückgeben. Das sehe ich öfter. Ich habe aber auch Leute erlebt, die sagen: Ich komme dreimal die Woche für zwei Stunden, über Nacht bleibe ich nicht, das sage ich Ihnen gleich. Und die bleiben dann auch dabei.

Verzögern Streitigkeiten oder unausgesprochene Dinge den Sterbeprozess?

Ja, das ist so. Auch wenn Patienten nicht mehr sprechen können – das Gehör geht als letztes. Jemand, der stirbt, tritt langsam in einen Dämmerzustand, ist nicht mehr richtig ansprechbar, wird unruhig. Man spürt, wenn die Leute kämpfen. Manche warten noch auf jemanden. Ich erinnere mich noch, als ein Mann im Sterben lag, der sich Sorgen machte, wie die Töchter im Haus weiterlebten, denn es gab Streit zwischen der Ehefrau und der Ex-Frau. Er konnte nicht sterben. Meine Kollegin sagte zu ihm: ‚Jetzt kämpfen Sie nicht so. Sie wissen doch, dass Ihre Töchter gesagt haben, dass sie das schaffen.’ Sie hat alle Vereinbarungen zusammengefasst. 20 Minuten später ist der Mann gestorben. Das hat mich sehr beeindruckt.

Was wünschen sich Menschen am Ende ihres Lebens?

Die Patienten, die wir haben, wollen zu Hause bleiben können und nicht mehr in die Klinik, sie wollen keine Schmerzen haben und nicht leiden. Wir erleben oft, dass sobald wir in der Versorgung sind und erklären, was wir tun können und was nicht, dies auch die Angehörigen entlastet.

Sehen Sie es einem Patienten an, wenn er nicht mehr lange zu leben hat?

Wenn jemand noch weniger als zwei Wochen zu leben hat, dann sieht man das meistens. Doch Sie glauben gar nicht, wie sich junge Patienten wieder aufraffen können. Die Befunde sagen oft auch nicht unbedingt etwas aus: Manchmal denke ich, dass wir uns beeilen müssen, um noch rechtzeitig zu dem Patienten zu kommen und bin dann überrascht, dass er mir selbst die Tür aufmacht.

Wie sehr klammern sich Patienten und Angehörige an die Hoffnung ans Leben?

Meistens wissen sie grob um ihre Prognose, wollen sie aber nicht immer hören. Es gibt Situationen, in denen ich sagen muss: Es tut mir leid, aber Sie haben nicht mehr so viel Zeit, wie Sie denken. Die Leute sind einem dann oft dankbar. Ich sage nichts, wenn ich merke, dass sie es nicht hören wollen. Irgendwann kommt man nicht mehr daran vorbei. Die Leute quälen sich ja auch damit. Das tut mir weh, und ich führe solche Gespräche nicht gern: Wenn man jemandem sagt, dass seine Lebenszeit deutlich begrenzter ist, als er sich das vorgestellt hat, ist das immer ein Schock. Besonders dann, wenn es junge Menschen sind.

Kommen auch Leute auf Sie zu, die Sie um Sterbehilfe bitten?

Ja, durchaus. Aber wir helfen Menschen, dass sie bis zum Ende selbstbestimmt leben und in Würde sterben können. Wir dürfen zwar Medikamente geben, die in der letzten Lebensphase das Leben auch verkürzen können. Doch wir helfen ihnen nicht beim Sterben. Wenn jemand sagt: ‚Ich will nicht mehr leben, tun Sie etwas’, dann frage ich: Warum wollen Sie jetzt sterben? Meistens gibt es einen Grund, der sich beheben lässt, wie starke Schmerzen oder Luftnot. Wir können jemanden auch sedieren, also schlafen legen, bis er verstirbt. Doch wenn ich sage, geben Sie mir die Chance, Ihre Medikation besser einzustellen, und wir das tun, habe ich noch keinen erlebt, der gesagt hat, ich will jetzt aber schlafen.

Sie schreiben, das schönste Kompliment sei, wenn Patienten, die sich zur Sterbehilfe in der Schweiz angemeldet haben, bei Ihnen in die Versorgung einsteigen.

Das stimmt. Ich habe oft erlebt, dass, auch wenn ich Patienten nur noch wenige Tage kennenlerne, ehe sie sterben, die Angehörigen danach sagen: Er hatte schon einen Termin in der Schweiz, doch als Sie kamen, war das kein Thema mehr. Wie verzweifelt muss ein Mensch sein, dass er so etwas tut.

Fragen: Birgit Hofmann