Aus dem Fenster des vierten Stocks schaut man ins Leben. Das Seehotel und der Bahnhof liegen zum Greifen nah, stattliche Bäume und der azurblaue See schieben sich ins Bild. Donnernd verlässt ein Zug den Bahnhof. Doch jetzt ist das Fenster wieder zu, und es ist still. Auch aus den Nachbarzimmern dringt kein Laut.

Im Hospiz in Friedrichshafen verbringen Menschen ihre letzte Lebenszeit. Manche kommen für mehrere Wochen und Monate, manche gehen für kurze Zeit noch einmal nach Hause, wenn es ihre Erkrankung zulässt, und einige kommen nur für wenige Tage, ehe sie sterben.

Der Blick aus einem der Hospiz-Zimmer in Friedrichshafen.
Der Blick aus einem der Hospiz-Zimmer in Friedrichshafen. | Bild: Birgit Hofmann

Doch wie gehen Menschen mit dieser letzten Zeit um, wenn die Diagnose endgültig ist und es keine Heilung gibt? Das Bundesverfassungsgericht hat 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe gekippt. Jeder habe das Recht auf selbstbestimmtes Sterben, hieß es.

Dieses Recht sei nicht auf schwere oder unheilbare Krankheiten beschränkt – es bestehe „in jeder Phase menschlicher Existenz“. Der Bundestag diskutiert derzeit drei Gesetzentwürfe, wie man die assistierte Sterbehilfe ermöglichen, aber Missbrauch ausschließen kann.

Obwohl das Hospiz mitten in der Stadt liegt, bleibt das Sterben vielen Menschen fern. „Wir erleben immer wieder, dass Angehörige, die selbst schon im Seniorenalter sind, zum ersten Mal Kontakt zum Tod bekommen, wenn die 95-jährige Mutter stirbt“, sagt Jens Fehrenbacher. Silke Uhl nickt.

Der Seelsorger und die Hospiz-Leiterin

Wie schwer es den Erkrankten und deren Angehörigen fällt, sich auf die begrenzte Lebenszeit und auf das Sterben einzulassen, erlebt die Leiterin des Hospizes jeden Tag.

Beide sind seit drei Jahren im Haus: Die gelernte Krankenschwester mit Palliativ-, Schmerz- und Intensivweiterbildungen und der Diplom-Theologe, der als Seelsorger sowohl für die Gäste im Hospiz, wie die Patienten hier genannt werden, als auch für die Pflegeheim-Bewohner im selben Gebäude zuständig ist.

„Wir versuchen hier, diese Zeit nicht festzulegen, sondern sie zu nutzen, indem wir für unsere Gäste da sind, ihnen die Schmerzen ...
„Wir versuchen hier, diese Zeit nicht festzulegen, sondern sie zu nutzen, indem wir für unsere Gäste da sind, ihnen die Schmerzen nehmen und sie begleiten“: Jens Fehrenbacher, Seelsorger im Hospiz in Friedrichshafen. | Bild: Hofmann, Birgit

Im Hospiz steht eine palliativmedizinische Begleitung für Menschen im Vordergrund, die im Sterben liegen. Jens Fehrenbacher betrachtet das Leben vom Sterben her. Aus dieser Perspektive, sagt er, sei er sich jeden Tag bewusst, wie begrenzt und zerbrechlich es ist.

Dem assistierten Suizid stehen beide kritisch gegenüber. Dadurch erhöhe sich der Druck auf die Betroffenen. Wenn jemand Suizid begeht, dann sei das stets ein Hilfeschrei. Jens Fehrenbacher hat öfter Familien, die einen Suizid erlebt haben, begleitet.

Ängste spielten dabei immer eine Rolle

Sei es die Angst vor dem Leben oder Situationen, die überfordern, wie die Diagnose einer Krankheit. Wenn man Menschen die Angst vor dem Sterbeprozess und den begleitenden Symptomen nehmen kann, wie er und Silke Uhl das täglich versuchen, dann sei viel gewonnen. Beide halten es für sehr wichtig, dass jeder für sich in einer Patientenverfügung festlegt, was medizinisch am Ende des Lebens noch getan werden soll.

Auch für Angehörige: Der Aufenthaltsraum im Friedrichshafener Hospiz.
Auch für Angehörige: Der Aufenthaltsraum im Friedrichshafener Hospiz. | Bild: Hofmann, Birgit

„Viele sind sehr auf diese Zeit, die noch bleibt, fixiert“, sagt der Seelsorger. „Wir versuchen hier, diese Zeit nicht festzulegen, sondern sie zu nutzen, indem wir für unsere Gäste da sind, ihnen die Schmerzen nehmen und sie begleiten.“ Zwei Palliativmediziner gehören zum Team.

Bedürfnisse der „Gäste“ im Vordergrund

Anders als in einer Klinik gibt es keine feste Tagesstruktur. Alles richtet sich nach den Bedürfnissen der „Gäste“. Was braucht jeder Einzelne, wie geht es ihm an diesem Tag, wie war die Nacht? Besuch ist jederzeit willkommen. Oft müssen Silke Uhl und ihr Kollege Angehörige ausdrücklich ermutigen, auch Kinder und Enkel mitzubringen. Für Haustiere, die zu Besuch kommen, liegt ein Leckerli parat.

Das erste Gespräch mit Silke Uhl kommt meist zustande, wenn der Arzt sagt, dass keine Behandlung und Heilung mehr möglich ist. „Viele wollen wissen, wie es dann weitergehen kann“, sagt sie. „Sie haben Angst und sind unsicher, was auf sie zukommt“, sagt sie.

Hospiz-Leiterin Silke Uhl sitzt am Bett eines „Gastes“. So werden die Patienten im Hospiz genannt.
Hospiz-Leiterin Silke Uhl sitzt am Bett eines „Gastes“. So werden die Patienten im Hospiz genannt. | Bild: Hofmann, Birgit

Dabei wird auch besprochen, wie die Zeit zu Hause am besten gestaltet werden kann, und wo sie Hilfe finden, beispielsweise durch den ehrenamtlichen ambulanten Hospizdienst. Sie spürt bei vielen die Angst vor dem Alleinsein beim Sterben und auch vor der Hilflosigkeit, wenn sie bestimmte Dinge nicht mehr können.

Die meisten Betroffenen haben Krebs-Erkrankungen, die medizinisch nicht mehr behandelbar sind. Unter den Gästen sind auch Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS), die keine künstliche Beatmung und Ernährung wünschen. Bei ALS handelt es sich um eine neurologische Erkrankung, die allmählich alle Muskeln lähmt – und für die es keine Heilung gibt.

Keine Chance ohne künstliche Beatmung

Jan Weber aus Neufrach im Bodenseekreis, bei dem vor acht Jahren ALS diagnostiziert wurde, würde heute nicht mehr leben, wenn er sich 2017 gegen eine künstliche Beatmung entschieden hätte. Da ist sich seine Frau Vera sicher. „Seine Atmung verschlechterte sich wöchentlich“, erinnert sie sich. „Nun sind wir in einer relativ sicheren Situation.“

Heute ist der 54-Jährige vom Hals abwärts gelähmt und kann nicht mehr sprechen. Bewegen kann er nur noch die Augen und einen Zeigefinger.

Selbstbestimmtes Sterben als Menschenrecht: Jan und Vera Weber. Er ist an Amyotropher Lateralsklerose erkrankt. Bild: Hofmann
Selbstbestimmtes Sterben als Menschenrecht: Jan und Vera Weber. Er ist an Amyotropher Lateralsklerose erkrankt. Bild: Hofmann | Bild: Hofmann, Birgit

Er wird zu Hause von seiner Frau und einem Pflegeteam versorgt und verständigt sich über einen Sprachcomputer. Dort habe er auch die besten Voraussetzungen bis zum Schluss. Auf die Frage, ob ihr Mann einen Arzt habe, der ihn im Zweifel in einer solchen Situation des assistierten Suizids unterstützen würde, antwortet sie: „Ich bin sicher, ich würde einen Arzt finden.“

Angehörige brauchen mehr Begleitung

Meist ist es gar nicht so einfach, der Familie zu erklären, was der „Gast“ wünscht. Sie braucht oft viel mehr Begleitung als der Betreffende selbst, so die Erfahrung des Seelsorgers und der Hospiz-Leiterin.

Nicht immer decken sich die Bedürfnisse der Erkrankten mit denen der Angehörigen. „Wenn jemand eine schlechte Nacht hatte mit Schmerzen, dann darf er am nächsten Morgen schlafen, bis er wach wird“, sagt Silke Uhl.

Einfach da sein und die Hand halten

Die Wünsche können am nächsten Tag wieder anders aussehen. „Wenn er dann um 8 Uhr Lust auf ein Spiegelei hat, bekommt er es.“ Gepflegt werde, wenn der Gast eine schmerzfreie Phase habe und es wünsche. Häufig sei auch ein Gespräch wichtiger, oder am Bett zu sitzen und die Hand zu halten.

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Wenn Angehörige sehen, dass Sterbende fast nichts mehr essen oder trinken, können sie damit oft schlecht umgehen. „Weil sie sterben, hören sie auf zu essen“, erklärt Silke Uhl ihnen dann. „Ihr Körper verträgt die Nahrung nicht mehr, vielfach müssen sie auch erbrechen.“

Ihnen reichen oft ein paar Eiswürfel, um den Mund zu befeuchten. Sie haben dann kein Durstgefühl. Auch die brodelnde Atmung, wenn der Erkrankte seinen Speichel nicht mehr schlucken kann, ist schwer zu ertragen für die Angehörigen.

Sterbehilfe: Was ist erlaubt in Deutschland?

Der Palliativmediziner Matthias Gockel aus Berlin, der seit vielen Jahren Patienten begleitet, nimmt Menschen die Angst vor dem Ersticken. In einem Gespräch mit dem SÜDKURIER sagte er vor einiger Zeit: „Mit fast 100-prozentiger Sicherheit kann ich die Menschen beruhigen, denn medikamentös lässt sich die Luftnot gut behandeln.“

Er könne nicht verhindern, dass der Körper des Erkrankten auf Dauer zu wenig Sauerstoff bekomme und irgendwann an diesem Sauerstoffmangel sterbe. „Aber der Patient wird das nicht als unangenehm empfinden.“

Der Intensiv- und Notfallmediziner Mathias Reyher aus Villingen-Schwenningen begrüßt die Stärkung des Rechtes auf Selbstbestimmung bei der Sterbehilfe, wenn die ‚geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung‘ grundsätzlich strafbar ist und die Werbung für die Hilfe zur Selbsttötung verboten bleibt.

Plädiert für den Ausbau der Hospizversorgung in Deutschland: Mathias Reyher, Oberarzt und Transplantationsbeauftragter am ...
Plädiert für den Ausbau der Hospizversorgung in Deutschland: Mathias Reyher, Oberarzt und Transplantationsbeauftragter am Schwarzwald-Baar Klinikum in Villingen-Schwenningen. Bild: Jacklin | Bild: Carolin Jacklin

Die geschäftsmäßige Suizidbeihilfe müsse möglich und straffrei sein, vorausgesetzt der volljährige und einsichtsfähige Patient werde umfassend aufgeklärt und begleitet.

Zu wenige Hospize

Der Transplantationsbeauftragte am Schwarzwald-Baar Klinikum hält es für nahezu zwingend, dass die Palliativ- und Hospizversorgung in Deutschland massiv ausgebaut, gefördert und unterstützt wird, um vielen Patienten eine echte Alternative zu Leid und sinnloser medizinischer Behandlung zu bieten: „Hier sind wir in Deutschland immer noch rudimentär und unterversorgt.“

Tödliches Medikament

Doch wie würde die Stiftung Liebenau, Träger des Friedrichshafener Hospizes, mit dem Wunsch eines Gastes umgehen, der dort von seinem Arzt ein tödliches Medikament erbittet?

„Für uns ist das Persönlichkeitsrecht eines Gastes, der einen solchen Wunsch äußern sollte, ausschlaggebend“, sagt Prälat Michael H. F. Brock, Vorstand des katholischen Sozialunternehmens.

Im Hospiz würde die Stiftung aber selbst keine Sterbehilfe durch eigene Ärzte anbieten oder anderweitig vermitteln. „Wenn aber ein Gast diesen Wunsch äußert“, sagt Brock, „werden wir ihn nicht bitten, die Einrichtung deswegen zu verlassen. Sollte ein Gast dies selbst und dann auf rechtlicher Grundlage organisieren, sei es Ausdruck seines Persönlichkeitsrechts.“ Aktive Werbung für assistierte Sterbehilfe wird es jedoch laut Brock in den Einrichtungen nicht geben.

Freude auf das Sommerfest

Für Jan Weber ist das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ein grundlegendes Menschenrecht, wie der an ALS Erkrankte in einer Mail schreibt. „Persönlich kann ich aber schlecht sagen, wie es weiter geht, und ob ich es mal in Anspruch nehmen werde. Vielleicht wird es ja mal schwierig. Aber nicht in der absehbaren Zukunft.“

Ende Juli feiert er mit seiner Familie und vielen Freunden seinen Geburtstag mit einem großen Sommerfest.